Neuland
in Kleidern wie ein Gymnasiastenpärchen (mit welcher Leichtigkeit sie damals kam), und danach sahen sie zusammen Before Sunrise , verschränkten im Dunkel die Finger, als schlössen sie einen ewigen Bund, und diese Berührung, noch immer etwas zögernd, schickte ihm Schauer über den Rücken bis unter die Schädeldecke, und er dachte sich, man weiß ja sowieso nie, was einmal wird, jede Entscheidung ist immer zu einem gewissen Prozentsatz auch Poker, und er flüsterte ihr ins Ohr: Ich liebe dich so sehr, Roni, du hast ja keine Ahnung. Und sie hatte die Hand zwischen seine Beine geschoben, ihren Mund nah an sein Ohr gebracht und heiser auf eine Melodie eines Schlagers gesungen, du bist verrückt nach mir, du kannst nicht ohne mir, du bist verrückt nach mir, du kannst nicht ohne mir –
Seit damals bis zu diesem Morgen, geschlagene zehn Jahre, hat er sich nicht länger als vierundzwanzig Stunden aus freien Stücken von ihr getrennt.
Auch an Ethan Hawke und Julie Delpy sind zwischen den beiden Filmen zehn Jahre vorübergegangen; man sieht ihnen die Spuren der Zeit an. Ethan Hawke (im Film heißt er Jesse) hat beim Lachen Falten um die Augen. Und Julie Delpy sieht trauriger und blasser aus. Oder war sie damals schon blass gewesen? Sie verlassen gerade die Buchhandlung, gehen ins Café, verlassen das Café, gehen durch die Straßen von Paris, und nach und nach, Wunde für Wunde, entdeckt Dori die zehn Jahre, die zwischen den beiden Filmen liegen, zwischen ihrer ersten, so vielversprechenden Nacht vor Sonnenaufgang und dem, was sich von diesen Versprechungen vielleicht noch retten ließ, bevor die Sonne untergeht –
Plötzlich Turbulenzen, das Bild bleibt stehen. Der Pilot erklärt, sie seien in ein Luftloch geraten, alle Passagiere sollten bitte an ihre Plätze zurückkehren. Die Flugbegleiterinnen reden auf die im Gang Stehenden ein, sich zu setzen und die Sicherheitsgurte anzulegen, als ob das jemandem etwas helfen würde, wenn das Flugzeug in den Ozean trudelt.
Vielleicht ist genau das Vater passiert? Vielleicht war er mit einem Kleinflugzeug, das er genommen hatte, um sich nicht mit den Bussen mühen zu müssen, abgestürzt und samt seiner orthopädischen Rückenlehne von Doktor Gav in die Tiefe gesegelt, immer tiefer, platsch, in seinen Tod. Da steigt in ihm ein klares Bild auf: sein Vater auf dem Meeresboden, die Augen weit aufgerissen, neben ihm seine ewige graue orthopädische Rückenlehne, und er, Dori, taucht an der Spitze einer Delegation von Sauerstoffflaschen, bahnt sich einen Weg zwischen kleinen Fischchen und Korallen hindurch, bis er zu ihm gelangt und ihn wirklich umarmt, zum ersten Mal. Und zum letzten Mal. Ob sein Rückendoktor im Wasser wohl schwebt oder untergeht? Diese nebensächliche Frage lässt Dori aus den Tiefen seiner Fantasie auftauchen. Das Wackeln des Flugzeugs wird wieder schwächer, die Frau neben ihm schlägt das Büchlein mit den Psalmen zu. Alfredo hat gesagt, bei seiner ersten Recherche in allen Krankenhäusern und bei allen Betreibern von Kleinflugzeugen sei der Name seines Vaters nirgends aufgetaucht. Aber es ist doch möglich, dass er an Bord eines nicht registrierten Privatflugzeuges von irgendwelchen Geschäftemachern war und dann abgestürzt ist, hatte Dori nachgehakt. You are right, Mister Dorrrri , Alfredo zog das »r« in die Länge, aber ich arbeite schon seit zehn Jahren auf diesem Gebiet. Ich habe gelernt, auf mein Bauchgefühl zu hören. Und mein Bauchgefühl sagt mir, dass Ihr Vater lebt.
Die letzte E-Mail, die Ze’ela von ihrem Vater bekommen hat, liegt zwei Monate zurück und wurde in Ecuador geschrieben. Darin erklärt ihr Vater, er werde für zwei, drei Wochen keinen Kontakt mit ihnen haben, sie sollten sich keine Sorgen machen. Davor hatten sie einige Telefongespräche geführt, die sie als »merkwürdig« beschrieb. Bei einem hatte er sie gerügt, ihre ganze Art zu leben sei nicht richtig, sie wolle nicht wirklich glücklich sein, und als sie anfing, mit ihm zu diskutieren, hatte er sie unterbrochen und gesagt, es gebe Dinge, die sie erst verstehen würde, wenn sie auf eine Reise ginge. Bei einem anderen Gespräch hatte er Dori und ihr Grüße von Mutter ausgerichtet, er habe sie hier getroffen.
Das wäre in Ordnung gewesen, wenn ihre Mutter nicht vor fast einem Jahr gestorben wäre. Oder wenn der, der das sagte, nicht ausgerechnet ihr Vater gewesen wäre: Meni Peleg, Kriegsheld, stets überlegt und abgeklärt, einer der erfolgreichsten strategischen
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