Neuland
die Untersuchung des Vorfallsauf Generalstabsniveau durchgeführt wurde und nicht auf Regimentsebene; er begnügte sich nicht mit den Untersuchungen der Militärpolizei, sondern traf sich mit Offizieren und Kameraden der Kompanie, mit derzeitigen und ehemaligen Militärpsychologen. In seinem Arbeitszimmer, das sonst vollstand mit Ordnern mit Verkehrsplänen, stapelten sich nun Ordner mit Berichten von Zeugen. Wenn diese Scheißkerle es wagen … können sie sich darauf gefasst machen, dass …, drohte er.
Ihre Mutter hatte kein Verständnis für dieses Hin und Her, das er veranstaltete. »Berichtstherapie« nannte sie es hinter seinem Rücken. Mein Sohn spielt nicht mit seiner Waffe, erklärte sie allen. Das passt einfach nicht zu ihm. Dann hat er eben keinen Brief hinterlassen, na und? Sie haben ihn dort erdrückt. Das ist der Grund. Anscheinend haben sie ihm so zugesetzt, dass er noch nicht mal mehr die Kraft hatte, einen Brief zu schreiben. Und wir – ich, ich habe es nicht gesehn (so sprach sie: »wir – ich, ich habe es nicht gesehn«). Das tut am meisten weh. Wir hatten hier einen Toten, der zwischen uns herumlief, und wir haben es nicht gemerkt. Um das zu verstehen, muss man kein Professor am Technion sein.
Einige Monate bevor sein Todestag sich zum ersten Mal jährte, veranstaltete ihre Mutter einen Wettbewerb junger Musikgruppen in Joavis Namen. Sie erreichte, dass die Stadt ihr Vorhaben finanzierte, fand Beleuchter und Leute, die bereit waren, bei der Veranstaltung ohne Honorar zu arbeiten, gewann für die Schirmherrschaft das Lokalblatt von Haifa, das kostenlos Anzeigenplatz zur Verfügung stellte. Auch Inbar bat sie um Hilfe: Komm, jemand muss schließlich die Verantwortung für die musikalische Seite übernehmen, davon versteh ich doch nichts. Und du hast Musik so gern.
Ich finde jemanden, der das für dich macht, Mama, hatte Inbar gesagt. Tut mir leid, ich bin einfach nicht in der Lage dazu.
Denn während ihr Vater versuchte, die in ihrem Wohnzimmer gelandete Schockgranate zurück in die Welt zu schleudern, ihre Mutter sich dagegen auf sie werfen wollte, wie eine Decke auf einen Brand, entschied sich Inbar, so weit wie möglich zu fliehen. Der Schmerz war so unerträglich, dass sie ihn per cut and paste in die Zukunft transponieren wollte, in bessere Zeiten, in denen sie genügend Kraft haben würde, sich ihm zu stellen. Nach Haifa fuhr sie kaum noch. Und schon nach dem ersten Trauermonat gab sie die Wohnung im Zentrum von Tel Aviv auf, weil sie das Rauchen ihrer Mitbewohnerin nicht länger aushielt, und mietete eine unmöblierte Wohnung im Süden der Stadt für sich allein. In Tel Aviv zu bleiben war ihr wichtig. Sie brauchte das Leben, die Bewegung um sich herum, gerade weil in ihr alles verloschen war. In den ersten Monaten schlief sie auf einer einfachen Matratze, die sie auf der Straße gefunden hatte; abgesehen davon und von dem Radio-Discplayer daneben, ließ sie die Wohnung lange leer. Nach Besuch war ihr nicht zumute, und so brauchte sie kein Sofa im Wohnzimmer. Ihre sexuelle Lust war gewelkt, und so bedurfte es auch keiner Accessoires der Verführung; ein Parfüm und ein Shampoo, die im Badezimmer unter dem Spiegel standen, reichten völlig. Bilder erschienen ihr zu fröhlich oder zu traurig, deshalb blieben auch die Wände nackt.
Fast ein Jahr verging, bis sie das erste Bild aufhängte: die Reproduktion eines Modiglianis, im Flur zwischen ihrem Zimmer und dem Wohnzimmer.
Danach kaufte sie ein neues Tischtuch für den Küchentisch. Dann eine Doppelmatratze und Bettwäsche. Dann tönte sie ihr Haar. Und kehrte eine Woche später erschreckt zu ihrer ursprünglichen Farbe zurück.
Es folgten Sessel und Sofas, die sie auf der Straße fand und selbst anstrich, und sie fuhr ins Industriegebiet von Netanja, nachdem sie gehört hatte, dass es da einen Ejtan gebe, der sagenhafte Lichtdesign-Lösungen zu Studentenpreisen anbiete.
Ein halbes Jahr später zog sie mit diesem Ejtan zusammen. Er wusste von Joavi, natürlich. Aber er wusste auch, dass sie nicht darüber reden wollte. Und dass seine Reaktion Inbar bei den wenigen Malen, die sie darüber sprachen, enttäuscht hatte.
Beim zweiten Musikwettbewerb zu Joavis Andenken begleitete er sie schon, streichelte die ganze Zeit über ihr Knie und sagte ihr, sie sei das große Los seines Lebens.
Er sah zusammen mit ihr, wie ihr Vater sich weigerte, den Vertretern der Armee, die zu der Veranstaltung gekommen waren, die Hand zu drücken. Sah, wie
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