Neuland
und fügte dann hinzu »seligen Andenkens«. Da hab ich es nicht mehr ausgehalten, Inbari. Ich hab keine Luft mehr gekriegt. Auch jetzt, wenn ich daran denke, krieg ich keine Luft. Weißt du noch, wie wir zusammen zum Strand gegangen sind, und ich ganz tief Luft geholt habe und abgetaucht bin, und du und Joavi, ihr habt mich hochziehen müssen?
Sie nickte. Dieses Spiel hatte sie nie gemocht. Sie hatte viel zu große Angst um ihren Vater gehabt, um es lustig zu finden.
Mir ist in Israel die Luft ausgegangen, Inbari. Ich hab fortmüssen. Entweder so oder …, er hielt mitten im Satz inne. Als erwarte er, dass sie ihn vervollständige.
Das tat sie nicht, und ihre Hand, die sich beinah ausstreckte, um seine Wange zu streicheln, blieb nah an ihrem Körper, was ihn umso verzweifelter machte. Verstehst du, verstehst du das nicht? Und als sie neben ihm weiterschwieg, bestellte er noch einen Gin,kippte ihn auf einen Zug herunter und schickte all seine Ingenieurs-Vorsicht zum Teufel.
Bis Reuven zur Welt kam, bin ich wie ein Gast durchs Leben gelaufen, sagte er. Da war so eine … durchsichtige Trennwand. Gefühle waren weit weg, an einem Ort, den ich nicht erreichen konnte. Aber es war nicht nur Reuven, es war auch Australien. Australien hat mich gelehrt, mich wieder zu freuen. Die Freude der Australier ist die Freude von Menschen, die wissen, dass das Leben voller Schmerz ist, und trotzdem beschließen sie, sich zu freuen, in der Gegenwart zu leben. Nicht in der Vergangenheit. Zurückblickend weiß ich, dass ich in einem zerrütteten Seelenzustand war. Damit du das richtig verstehst, die Beziehung mit deiner Mutter war nicht … gut … schon bevor das mit Joavi … Du bist ein kluges Mädchen. Du hast das bestimmt gemerkt.
Warum habt ihr euch dann nicht getrennt?, fragte sie sich im Stillen. Und er antwortete: Wir haben uns nicht getrennt, weil wir nicht wollten, dass die Erde bebt, auf der ihr steht. Wir hatten Angst, dass das für euch nicht gut wäre.
Na, ein Glück, dass Joavi gestorben ist. So habt ihr endlich Mut gefasst, sagte sie. Sie musste einfach diese Blase der Selbstzufriedenheit zerstechen, die ihn die ganze Zeit umgab, selbst als er »seelisch zerrüttet« sagte. Er stellte das Glas ab, das er gerade angesetzt hatte. Sein Gesicht wurde bleich, einen Moment lang meinte sie, er würde ohnmächtig. Er tat ein paar lange Atemzüge, legte dann die Hände unter seine Oberschenkel und sagte: Ich hatte keine andere Wahl. Entweder so oder ganz aufgeben. Kannst du das verstehen?
Sie lieferte ihm nicht das verständnisvolle Nicken, das er erwartete, denn hinter all dem stand die Lüge. Nicht, dass er je ein großer Verfechter der Wahrheit gewesen wäre. Überhaupt nicht. Aber seine Lügen waren immer klein und dumm, wenn er ihr zum Beispiel sagte, er habe kein Geld dabei, statt ihr zu sagen, er wolle ihr etwas nicht kaufen, oder wenn er sagte, er habe sich wegen eines Staus verspätet, statt dass er zugab, vergessen zu haben, dass er dran war, sie von der Schule abzuholen, und sie hatte all diese Lügen übergangen, weil sie fühlte, dass seine Liebe zu ihr die reine Wahrheit war. Aber vor ihr zu verheimlichen, dass er ein Kind hatte? Das war schon keine Lüge mehr. Das war schon richtiger Betrug.
Und trotzdem endete dieser Abend doch noch mit einem Lächeln, bevor sie den Fahrstuhl verließ, als er auf ihrem Stockwerk hielt, denn, nichts zu machen, sie liebte ihn eben aus tiefster Seele, diesen verlogenen Vater. Und dann kam der Abschied auf demselben Flughafen, auf dem sie sich getroffen hatten, zu früher Morgenstunde, und Reuven klammerte sich an sie und wollte sie nicht gehen lassen, und ihr Vater weinte. Sie hatte ihn noch nie vorher weinen sehen. Tränen rollten ihm über die grau gewordenen Wangen und von dort den Hals runter, wo er viele kleine Falten bekam, und er versprach ihr, mit der Hand auf dem Herzen, sie kämen sie in ein paar Monaten zu dritt im Land besuchen. Sie glaubte ihm kein Wort mehr, nickte aber, als glaube sie ihm doch.
*
Der Pilot teilte mit, man habe endlich die Landeerlaubnis erhalten, und entschuldigte sich in drei Sprachen für die Verspätung. Hinter ihrem Fenster war es inzwischen völlig dunkel. Merkwürdig, dass es in einer so großen Stadt überhaupt keine Lichter gab. Die Dame am Ticketschalter in Berlin hatte gesagt, das Flugzeug werde noch bei Tag landen, und hinzugefügt, das sei besser so. In Lima solle man nicht nachts ankommen. Warum? – Lassen wir das, Sie fahren
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