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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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ihre Mutter mitten in ihrer Rede nicht mehr konnte und von der Bühne ging, ohne zu Ende gesprochen zu haben. Und wie düster das Haus war, in dem Inbar aufgewachsen war, auch wenn alle Lichter brannten. Dass die Klappe zum Bunker noch immer offen stand und gegen alle Gesetze der Physik kalte Luft von unten in den oberen Teil des Hauses drang. Er sah, wie Inbars Eltern, statt sich zu stützen und zu trösten, einander dort verletzten, wo es am meisten wehtat. Die ganze Zeit. Und wie Inbar, die in seiner Gegenwart ein so aufmüpfiger Mensch war, mit jeder weiteren Stunde im Haus der Eltern mehr verblich und die Waffen streckte.
    Der ist ganz in Ordnung, dein neuer Freund, sagte ihr Vater am nächsten Tag am Telefon. Ich habe das Gefühl, ich lasse dich in guten Händen.
    Du lässt mich in guten Händen? Was soll das heißen?
    Ich habe ein Arbeitsangebot in Australien bekommen, Inbari. Sie wollen die ganze Verkehrsführung von Sydney neu planen … und mich als Berater. Ich war noch nie an einem Projekt von solch einer Größenordnung beteiligt. So ein Angebot … das kann ich nicht ablehnen. Das heißt – der Professor vom Technion spürte die Notwendigkeit, präzise zu sein –, sowas gibt es natürlich nicht, ein Angebot, das man nicht ablehnen kann, aber es ist ein sehr verlockender Vorschlag.
    Und was ist mit Mama?
    Sie … hat kein Interesse, mitzukommen. Ich dachte … wir beide haben gedacht, dass es gut wäre, aus verschiedenen Gründen, ein bisschen Distanz zu gewinnen. Verstehst du?
    Sie verstand. Nachdem die Panik, verlassen zu werden, etwas abgeklungen war, dachte sie, dass es gar keine schlechte Idee war,wenn er seine Wut an einem anderen Ort etwas auslüftete. Und eine Woche später rief sie ihn an und gab ihm ihren Segen zu der Reise.
    Danke, sagte er. Es war mir wichtig, das von dir zu hören, denn … du weißt doch, dass ich … Und sie sagte, ja Papa, ich weiß, und hätte im Traum nicht daran gedacht, dass bereits drei Monate später Scheidungsdokumente zwischen ihren Eltern hin- und hergehen würden. Auch nicht, dass er vier Jahre am Stück in Australien bleiben und sich in den ersten beiden Jahren vor jedem ihrer Vorschläge, ihn dort zu besuchen, mit ziemlich miesen Ausreden drücken würde und ihr dann plötzlich, ganz aus heiterem Himmel, per Post ein Flugticket nach Hongkong schicken würde, mit einem Zettelchen, auf dem stand: »Komm, Inbari, wir treffen uns auf halbem Weg. Ich hab dir was zu erzählen«, und dass er sie auf dem Flughafen in Hongkong mit Vivian, seiner neuen Frau, und einem kleinen Kind auf dem Arm erwarten und ihr mit einem breiten Lächeln sagen würde: Darf ich vorstellen, Inbar, das ist dein Bruder.
    *
    Im ersten Moment, in dem sie Reuven erblickte, hatte es ihr den Atem verschlagen – so ähnlich sah er Joavi. Im zweiten Moment hatte sie ihn schon ins Herz geschlossen. Und im dritten meldete sich eine Mordswut auf ihren Vater, dass er ihn so lang vor ihr verheimlicht hatte. So ging es in Hongkong vier Tage lang: Wut und Liebe, Liebe und Wut, Erklärungsversuche vonseiten ihres Vaters und ihre Versuche, ihn zu verstehen.
    Das Flugzeug kreiste über Lima, und sie erinnerte sich – in dieser Nacht konnte sie die Erinnerungen einfach nicht stoppen – an ein Gespräch. Vivian war im Zimmer geblieben und passte auf Reuven auf, und sie und ihr Vater waren in die Bar des Hotels etwas trinken gegangen. In der Hoffnung, der Alkohol würde die Zungen lösen.
    Ich freu mich so, dass ihr beide zusammen so gut könnt, du und Reuven.
    Ein bezaubernder Junge, sagte sie und fügte nach kurzem Innehalten hinzu: Aber ist er Joavi nicht furchtbar ähnlich?
    Ja, furchtbar. Er macht manchmal so eine kleine Bewegung mit der Nase.
    Genau.
    Und, macht dich das nicht … wahnsinnig, Papa?
    Schon. Aber es hat mich noch mehr wahnsinnig gemacht, in dem Haus rumzulaufen, in dem Joavi aufgewachsen ist, an seinem Zimmer vorbeizugehn und zu hoffen, dass er doch noch da ist. Und noch schlimmer war es, Inbari, im Supermarkt einzukaufen und mit einem Doppelbecher Vanillepudding an der Kasse zu stehen und dann zu merken, dass da keiner mehr ist, für den ich das kaufe. Weißt du noch, wie sehr er –
    Ja.
    Und auch, seine Freunde in Haifa rumlaufen zu sehen. So entsetzlich … lebendig. Einmal habe ich an der Ausfahrt getankt, und der Tankwart kam mir irgendwie bekannt vor, da hab ich ihn gefragt, woher er kommt, ich dachte, vielleicht ein Student von mir. Und er sagte, Sie sind der Vater von Joavi,

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