Neuland
die Augen nicht aufmachte, hatte sie gedacht, er wolle wieder schlafen, und war aus dem Zimmer gegangen. Und hatte ihre Sachen gepackt.
Sie wollte früh zurück in Tel Aviv sein. Für den Fall, dass es Hoffmann gelingen würde, am Abend frei zu kriegen.
Sogar während der Trauerwoche, in dem ganzen Schmerz, hatte sie sich gefragt, wann Hoffmann in der Tür stehen würde. Sie hatte ihm doch eine Nachricht geschickt, und bestimmt hatte er die Anzeige in der Zeitung gesehen. An den ersten beiden Tagen dachte sie, er wartet ab, bis der Besucherstrom etwas schwächer wird. An den folgenden drei Tagen dachte sie, das sind die Tage, an denen er bis spät unterrichtet, dann wird er nicht noch nach Haifa fahren können, und an den letzten beiden Tagen schaute sie bei jedem eintretenden Besucher auf, voll Hoffnung und enttäuschter Ahnung.
Aber ich habe dir jeden Tag eine Mail geschickt, brachte er zu seiner Verteidigung vor, als sie ihn schließlich von dem Pfad unterhalb des Hauses ihrer Eltern mit dem Handy anrief, das war am siebten Tag, und sie hatte so laut geschrien, dass die Schmetterlinge aus ihrem Schlaf erwachten: Was denn, plötzlich E-Mails? Glaubst du, ich hatte in der Trauerwoche den Kopf dazu, ins Internet zu gehn? Und er sagte, aber Inbar, du musst diese Problematik verstehen,wenn ich plötzlich bei deinen Eltern aufgetaucht wäre, das hätte nur Gemunkel gegeben, und das wollen wir doch beide nicht, oder?
Mein Bruder ist tot! Ich weiß gar nicht mehr, was ich will und was nicht. Ihre Stimme bekam einen Sprung, und sie legte auf, denn sie wollte nicht, dass er sie in ihrer Schwäche hörte, und reagierte nicht auf seine beiden folgenden Versuche, sie anzurufen (warum nur zwei, warum nicht sechs? Warum war er nicht hartnäckiger? Sie kochte vor Wut), und nachts ging sie heimlich ins Arbeitszimmer ihres Vaters, machte ihre Inbox auf und fand dort drei E-Mails von ihm, nur drei, und die waren voller Zitate aus der Literatur, Kafka, Brecht, natürlich Jaakow Shabtai, enthielten aber nur wenig liebe Worte, die dazu noch sehr angestrengt klangen und zeigten, dass ihm diese ganze Sache kein Härchen auf den Eiern krümmte, wie er zu sagen pflegte, wenn Kollegen aus seinem Institut seine Aufsätze kritisierten.
Siehst du, sagte sie sich. Jetzt hat er dich schmerzhaft gedemütigt. Das wolltest du doch, oder? Aber auf der Rückfahrt von Haifa in ihre Wohnung in Tel Aviv wurde aus dem Stich der Demütigung Hass, richtiger Hass. In den Monaten ihrer Beziehung hatte sie zwischen zwei Versionen ihrer Geschichte geschwankt. Der einen, die sie gern glauben wollte, dass er wirklich verliebt in sie war und dass es, wie er sagte, eine ganz besondere und seltene, altersübergreifende Beziehung wie bei Seelengeschwistern sei – und der anderen, dass sie letztlich nur ein Fick für ihn war und sein ganzes Gerede von Geschwisterseelen nur seine nackte Geilheit bemänteln sollte, eine Studentin, die zwanzig Jahre jünger als er war, flachzulegen. So ein Scheißkerl, sagte sie sich kurz vor Netanja. So ein Scheißkerl, sagte sie sich kurz vor Herzlia, und an der Kreuzung Namir und Rokach fuhr sie nicht geradeaus weiter zu sich, sondern bog links ab, zu seinem Viertel, fand seinen Honda, in dem er ihr zu oft den Slip ausgezogen hatte, und ritzte mit ihrer Nagelfeile die ganzen Türen entlang, und am nächsten Tag kaufte sie schwarzes Spray und sprühte an seine Haustür »Betrüger«, und an sein Zimmer in der Uni »Scharlatan« und schickte einige seiner saftigeren Mails,die sie aufbewahrt hatte, obwohl er von ihr verlangt hatte, alles, was sie von ihm bekam, zu löschen, per Forward ans Sekretariat.
Nach der angestauten Trauer der vergangenen Schiv’a hatte diese Wut etwas Befreiendes. Anders als bei ihrem Vater, der eine Wut auf Institutionen wie »den Staat« oder »den Militärapparat« hatte, war ihre Wut gebündelt und auf eine einzige Person gerichtet; das brachte mehr Befriedigung. Hätte Hoffmann nicht angerufen und ihr gedroht, er werde bei der Polizei Anzeige erstatten, hätte sie ihren Rachefeldzug fortgeführt. Kein Problem, Joram, hatte sie ihm in sehr unterkühltem Ton gesagt, zeig mich ruhig an. Nur vergiss nicht, ich kann eine Gegenanzeige machen, von wegen Unzucht mit Abhängigen, du weißt schon.
Trotzdem hatte sie aufgehört.
Sie wollte ihre Eltern nicht noch unglücklicher machen, die ohnehin wie trockene Erde zerbröckelten.
Es zerriss ihr jedes Mal das Herz, wenn sie sie besuchte. Ein wirklich gutes
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