Neuland
einen Moment, in dem es sich auf perfekte Weise mit dem ganz persönlichen Ausdruck dessen, der es singt, vereint. Lili hatte die HaTikwa schon Dutzende Male vorher gesungen, hatte sich aber nie große Gedanken über die Worte gemacht. Noch nie hatte sie bemerkt, dass sie mit einem Bedingungssatz begann »Solang noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt« , oder die drohende Verzweiflung in der Zeile: »solang ist unsre Hoffnung nicht verloren« wahrgenommen – erst in diesem Moment, als Hunderte von Menschen auf beiden Schiffen in gewaltigen Gesang ausbrachen, verstand sie, was sie sang. Zuerst hinkte das Schwesterschiff um eine Zeile hinter der Futuro her, als hätte es die Rolle der zweiten Stimme übernommen. Doch kurz vor der letzten Wiederholung von »ein freies Volk zu sein« verbanden sich alle Stimmen zu einem geeinten Chor, der mit lauter Stimme forderte: »E-retz Zi-on Vi-Jeru-scha-laha-jim.«
Danach, bevor jedes der Schiffe seine Route fortsetzte, war noch etwas passiert.
In der Chronik des Schiffes, die im Archiv der Hagana aufbewahrt wird, ist dieses Ereignis aus irgendeinem Grund nicht erwähnt. Doch Lili erinnert sich ganz genau: Nachdem der gewaltige Gesang verklungen war, sprang plötzlich jemand von Bord der Ziona ins Wasser. Und direkt danach sprang jemand von ihrem Schiff. Sie schwammen aufeinander zu, einige Minuten, die wie Stunden wirkten. Lili erinnert sich, der Mann von ihrem Schiff ist Brust geschwommen, während der von der Ziona kraulte, und deshalb trafen sie nicht in der Mitte aufeinander, sondern näher an ihrem Schiff. Hier wie da machten bereits Gerüchte die Runde, es handle sich um zwei Brüder, die von den Ereignissen in Europa auseinandergerissen worden waren. Doch als man sie, salzig bis auf die Knochen, an Bord gezogen und abgetrocknet hatte und nachdem sie von der fettigen Gemüsesuppe gekostet hatten, die man ihnen aus der Küche heraufschickte, kam heraus, dass sie sich überhaupt nicht kannten. Sie hatten noch nicht mal eine gemeinsame Sprache. Der eine sprach Polnisch, der andere Rumänisch.
Warum seid ihr dann beide aufeinander zugesprungen?, forschten die um sie Versammelten nach. Das weiß ich nicht, antworteten beide, jeder in seiner Sprache. Plötzlich überkam mich so ein Drang, der war stärker als ich.
Inbar
erkannte ihn an den traurigen Schultern, aber das erschien ihr viel zu unglaublich. Deshalb lehnte sie sich ans Geländer, tat so, als schaute sie auf die Stadt, und warf ihm ein paar kurze Blicke zu.
Sein Haar, das er, als sie ihn auf dem Flughafen gesehen hatte, kurz geschnitten trug, war inzwischen etwas gewachsen, und nun hatte er einen kleinen Wirbel auf dem Kopf, der Inbar Lust machte, ihn anzufeuchten und zu kämmen. Die grauen Spitzen waren zu grauem Haar geworden, das ihn älter wirken ließ. Auf seinem Kinn wuchs ein Bart, kein feiner intellektueller Bart, sondern ein ungepflegter, zufälliger Stoppelbart, wie eine Wiese nach einemtrockenen Jahr. Seine Jeans schlabberten, an seinen Schuhen klebte Schlamm –
Doch den Schultern und dem hervorstehenden Adamsapfel nach zu schließen, musste er es sein. Vielleicht war sein Nazi ihm wirklich bis hierher entflohen, dachte sie. Es hat doch Nazis gegeben, die nach dem Krieg alles taten, um einen ganzen Ozean zwischen sich und ihre Vergangenheit zu schieben.
Er faltete den Stadtplan zusammen, über den er sich zuvor gebeugt hatte, steckte ihn in seinen Pouch und zog den Reißverschluss zu. Jetzt steht er auf und wird gehen, dachte Inbar, und wieder werde ich nicht mit ihm gesprochen haben. Und vermutlich werde ich ihn auch nicht noch einmal sehen. Er wird seinen Nazi finden und umbringen und dann von der Bildfläche verschwinden, seinen Namen ändern, die Identität, das Gesicht. Auch kein Unglück, redete sie sich ein, ich kann ja über ihn fantasieren. Vielleicht ist das sowieso besser. Ohne Komplikationen.
Doch Nessia fand sich mit dieser Entscheidung nicht ab und bewegte sie dazu, sich aufzumachen und zu ihm zu gehen.
Erst als sie direkt neben ihm stand, schaute er sie an. Etwas erstaunt, aber nicht begeistert. Als habe sie ihn in einem sehr persönlichen Gedanken gestört.
Schalom , sagte sie trotzdem. In den langen Sekunden bis er antwortete, warf sie sich vor, dass sie noch nicht einmal wusste, ob er Hebräisch sprach und wie peinlich es wäre, wenn nicht, und wieso sprach sie ihn überhaupt plötzlich an was suchte sie denn was wollte sie denn von dem das war jetzt keine Geschichte sondern
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