Neuland
Dori nickte. Die Abwesenheit von Aviram, Ze’elas Mann, imKrankenhaus ließ Roni in positivem Licht erscheinen. Und wirklich konnte er kein schlechtes Wort über seine Frau sagen. Da war nur so ein undeutliches Gefühl, der Widerhall eines Gefühls, als habe er mehr von ihr erwartet. Mehr wovon? Das konnte er nicht sagen.
Sofort nach der Schiv’a kehrte Roni zurück in ihren Arbeitsalltag. Sie arbeitete sogar noch mehr, um die Stunden reinzuholen, die ihr während der Zeit im Krankenhaus gefehlt hatten. So kam der Laptop das erste Mal in ihr Bett, und von dort aus arbeitete sie weiter, bis ihr die Augen zufielen. Und wieder konnte Dori ihr eigentlich keine Vorwürfe machen. Es war völlig richtig und angebracht, so zu handeln. Der Strom des Lebens war stark und reißend. Letztendlich war es doch seine Mutter und nicht ihre. Dass sie seinen Schmerz nicht in sich aufsog, dass sie eine Grenze zog und sagte: Wir sind zwei unterschiedliche Menschen, und es gibt einen Schmerz, der nur dir gehört, das war ja richtig, einer musste doch ein bisschen ausgleichen –
Doch er hatte er sich im Stich gelassen gefühlt, auch wenn es ihm schwerfiel, diese Verlassenheit in Worte zu fassen, auch wenn er sich selbst im Verdacht hatte, derjenige zu sein, der im Stich ließ und auch wenn er sich nicht sicher war, ob das Thema von Im-Stich-Lassen nicht einen anderen, noch verborgenen Hintergrund hatte. Und so verhedderten sich seine Gedanken immer mehr und entfernten sich vom wirklichen Verstehen, denn schon immer war er besser darin gewesen, Vergangenes zu entschlüsseln, als das Jetzt zu begreifen, und besser darin, nach draußen zu schauen als nach innen –
Etwa zwei Monate nachdem seine Mutter gestorben war, hatte das Stechen begonnen.
Er hatte im Wohnzimmer gesessen, nachdem Roni ins Bett gegangen war und er ihr versprochen hatte, gleich nachzukommen, und hatte den Fernseher angeschaltet, um die Sportnachrichten zu sehen. Meistens schaltete er ein, als sie längst begonnen hatten, und dann wartete er auf die Wiederholung, um auch noch die erstenBeiträge, die er verpasst hatte, zu sehen, und manchmal, an besonders hungrigen Tagen, schaute er sich die Beiträge, die er schon gesehen hatte, noch einmal an, obwohl er genau wusste, dass er nur den Moment hinauszögern wollte, in dem er den Fernseher ausschalten musste und das Stechen der Sehnsucht beginnen würde. Zuerst hatte er es mit Hunger verwechselt und sich große Nachtmahlzeiten zubereitet, nach Rezepten aus dem Ordner des Kochkurses – vielleicht würde das Steak lindern, vielleicht die Pasta beruhigen –, doch das Stechen hörte nicht auf, vor allem in der Hüftgegend, es war das Stechen einer unerklärlichen Sehnsucht, einer Sehnsucht um ihrer selbst willen, einer Sehnsucht, die er früher, bevor er das Schlagzeug verkaufte, in Trommeln entladen hatte. Ein Uhr nachts, halb zwei, zwei, halb drei, jedes Mal nahm er sich eine andere volle Stunde vor, zu der er aufstehen und sich zu Roni ins Bett legen würde, und jedes Mal segelte er irgendwie daran vorbei, mal ging er ins Internet, mal in ihre Mailbox, suchte vergeblich nach Beweisen dafür, dass sie ihn, als sie in Barcelona war, betrogen hatte, las Nachrichten, las historische Details auf der Homepage für feministische Geschichte »Herstory«, die seine Mutter sehr mochte, las die wenigen Mails, die Roni ihm in den letzten Jahren geschrieben hatte, und in seiner Kehle steckte ein Wolfsschrei, der den Mond erschüttern wollte. Die Augen fielen ihm am Bildschirm schon vor Müdigkeit zu, doch das Sehnen, wacher als je, schickte ihn gegen Ende der Nacht in Netas Zimmer. Immer hatte er insgeheim über jene Szenen in amerikanischen Filmen gespottet, wo der Vater spätnachts von der Arbeit heimkommt, ins Kinderzimmer geht und seine Kinder im Schlaf betrachtet. »Ich möchte meine Kinder wach sehen«, hatte er sich geschworen, noch bevor er überhaupt Vater wurde, und dennoch, als alle Seile rissen, zog er vom Computerzimmer in das kleinste Zimmer der Wohnung mit dem verstreuten Spielzeug auf dem Boden, um sich an irgendeiner Gewissheit festzuhalten. Denn in dieser Fülle von Zweifeln gab es doch einen Eckstein, der alles zusammenhielt: seinen Sohn. Dieses Kind liebte ihn und brauchteihn, es brauchte, dass er für es klar war wie ein Kristall, beständig und ohne unerklärbares Sehnen.
Und wenn er in Netas Zimmer war und seinem regelmäßigen Atem lauschte, verging das Stechen. Ganz langsam, bis zur nächsten Nacht.
Wie
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