Neuland
kleiner Marco, der seine Mama sucht. Das heißt, der seinen Vater sucht und auf jede Hilfe angewiesen ist, die er nur bekommen kann.
Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?, fragte sie.
Ich? … Ja … schau mal … vielleicht hast du Angst, dass … aber … ich bin von dieser konservativen Partei derer … kennst du die, aus dem Gedicht von Amichai? ja? … dann fänd ich es schade, auf dich zu verzichten … du bist doch schon ein Teil … bist doch schon involviert … und obwohl ich es mir manchmal schon vorstellen könnte … du musst dich vor nichts … denn ich habe ein Kind … er ist der Eckstein … deshalb … verstehst du?
So ungefähr.
Schön, denn ich verstehe nicht ganz, was ich gerade gesagt habe.
Sie lachte. Nicht über das, was er sagte, sondern weil sich beim Reden sein Adamsapfel rötete.
Du kannst dich bedanken, dachte sie. Er hat für dich den Punkt gemacht.
Und sie stellte ihren Rucksack ab.
*
Alfredo kam nicht herunter in die Lobby des Hostels, und so gingen sie hinauf zu seinem Zimmer und klopften an die Tür. Er öffnete ihnen in einem roten seidenen Morgenmantel, während auf dem Bett hinter ihm, von einem Laken bedeckt, zwei junge Mädchen lagen. Dieser unerträgliche Körpergeruch von ihm, als würdeer sich mit einem Deodorant mit Schweißgeruch einsprühen, ließ sie einen Schritt zurückweichen.
Si, por favor – er schaute Inbar spöttisch an, als sage er, schau, was du verpasst hast –, was kann ich für euch tun?
Es ist spät, wir müssen los, sagte Dori.
Dann brecht auf, sagte Alfredo.
Was heißt das? Was ist denn mit dir los?
Lies unseren Vertrag, Mister Dorrri. Es tut mir wirklich leid. Aber nach Argentinien fahre ich nicht.
So eine Klausel gab es in unserem Vertrag nicht, Alfredo.
Es tut mir sehr leid, aber sie steht da. Das kannst du gern überprüfen, wenn du mir nicht glaubst.
Alfredo
Gern hätte ich ihn bis zum Schluss begleitet, bis er seinen Vater findet. Ich hab diesen Auftrag ja nicht einfach so angenommen. Als Seela das erste Mal bei mir anrief, da hab ich mir gesagt, Alfredo Gonzales, hier hast du eine Chance. Wirklich schade, dass es so ausgeht, denn die Scherben des Kruges hätten sich so schön zusammensetzen lassen, nach dem, was im Tagebuch seines Vaters stand: Die Begegnungen mit seiner toten Frau, das quilombo auf El Locos Farm und auch, dass er ausgerechnet den Titicacasee gewählt hat, den Ort, wo die Sonne geboren wurde, um dieses Tagebuch zu schreiben, der Kontaktabbruch, die eine Mail, die er seinen Kindern geschrieben hat – das alles führt wie ein Pfeil zu einem Mann, der sein Leben von Neuem beginnen will und muss. Mierda , es wäre schön gewesen, zur Abwechslung mal jemanden lebend zu finden, nach den vielen Leichen im letzten Jahr. Mit Kleidern und ohne Kleider. Mit Würmern und ohne Würmer. Egal. Eine Leiche ist immer scheiße. Und hier wird es keine Leiche geben, so sieht es für mich aus. Soweit ich das beobachten konnte, sterbenMenschen, die für etwas leben, normalerweise nicht, auch nicht, wenn es Fantastereien sind. Es wäre spannend gewesen, diesen Ort zu sehen, den der Vater von Mister Dori da auf einer Farm von vor hundert Jahren aufbauen will. Auf so eine Idee kommt nur ein Verrückter, aber auch Bolívar war so ein Verrückter, und Che war so ein Verrückter. Ohne solche Verrückten würde sich die ganze Menschheit im Kreis drehen, und nicht nur die Erdkugel.
Schade nur, dass die Farm in Argentina ist, wenn sie in Alaska oder Australien wäre, meinetwegen auf den Fidschi-Inseln, wäre ich gern mit ihnen mitgefahren und hätte das aus meiner Tasche finanziert, das schwöre ich. Nur weil mir Mister Dori und Señorita Inbar und Seela am Herzen liegen.
Aber nicht in Argentinien.
Da gibt es einen Mann, wenn ich den sehe, dann bring ich ihn um. Diesen jemand kann ich nicht »Vater« nennen, er hat diesen Namen nicht verdient. Den hat keiner verdient, der seine Frau geschlagen und verlassen hat und ihr keinen einzigen Peso geschickt hat, seiner Frau, die seinen Kindern jeden Mittag und jeden Abend Kartoffeln und sonntagabends Kartoffeln mit Reis gekocht hat. Einer, der sich nie dafür interessiert hat, ob seine Kinder krank sind, und der nicht zur Beerdigung seines Erstgeborenen Alonso gekommen ist, der kein Taschengeld gegeben hat und nicht einmal mitkam, ein Fußballspiel anschaun, der nicht umarmt und noch nicht einmal mit dem Gürtel geschlagen hat, wie ein normaler Vater.
Ich weiß, er läuft in Buenos Aires
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