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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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viele solche Nächte es gegeben hatte? In dieser Zeit hatte er nicht bemerkt, wie sie sich häuften. Jede Nacht stand für sich. Erst jetzt, aus der Entfernung seiner Reise, wurde ihm klar, dass es viele gewesen waren, sehr viele solche Nächte. Im Grunde sehnte er sich schon seit vielen Wochen, ohne zu wissen, wonach –
    *
    Erst zur Zeit der zweiten Nachtwache, als er aus dem Herbergsbett aufstand, um zur Toilette zu gehen, bemerkte er einen unter der Tür hindurchgeschobenen Zettel.

    Hi, Dori,
    ich hab keine Ahnung, wie du dich entschieden hast. Aber wie auch immer, beim zweiten Nachdenken bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee ist, wenn wir zusammen weitermachen. Ich gehe nach dem Frühstück runter an die Bucht und setze meine Reise fort.
    Es war eine angenehme (und seltene) Begegnung,
    Inbar.

Inbar
    hatte sechs Versionen dieses Zettels geschrieben. Von Mal zu Mal kürzer. Immer hatte sie den Eindruck, zu viel auf den Tisch zu legen, wo sie sich doch nicht darüber klar war, was die andere Seite wollte, und schlimmer noch, was sie selbst wollte. Zwischen der fünftenund der sechsten Version rief sie Ejtan an. Er war warm, liebevoll und großherzig, Ejtan eben, und ihr Körper reagierte auf ihn, von dem Ort aus, wo er immer reagierte, zwischen den Rippen. Dori dagegen, mit seinem Geruch, den traurigen Schultern und dem hervorstehenden Adamsapfel, mit seinem großen Wissen, seinem Ivrith, diesem stillen Jerusalemer Ton und der Sorge um seinen Vater und noch ein paar Dingen, auf die sie noch nicht den Finger legen konnte – Dori rührte sie an einem ganz anderen Ort, der viel gefährlicher war. Oben im Rachen, nahe am Zäpfchen. An dem Punkt, an dem auch der Wahnsinn ausbrechen kann. Sie hatte so lange gebraucht, nach Joavi wieder ein Gleichgewicht zu finden, dachte sie. Sie hatte so lange gebraucht, bis sie wieder hatte essen können. Wieder lachen, wieder Musik hören. Es gab keine Rechtfertigung dafür, sich noch einmal den Teppich unter den Füßen wegzuziehen, für noch einen Hoffmann. Auch hatte sie so lange gebraucht, mit dem Schreiben anzufangen, anzufangen, ihre Stimme zu finden, es wäre schade, wenn das alles jetzt in ihrem Herzen zu einer Liebesgeschichte verschmelzen würde, die ohnehin keine Chance hatte. Sie ging duschen, um dieses Berührtsein loszuwerden, und als sie zurückkam, holte sie einen neuen Slip aus einer Plastiktüte, die sie mal in einer Buchhandlung bekommen hatte, auf der ausgerechnet stand »Ich habe einen Roman (in der Tasche)«.
    Jetzt, jetzt Inbar, ist es an der Zeit, einen Punkt zu machen, sagte sie sich. Jetzt. Bevor es zu spät ist –
    Und den sechsten Zettel, den letzten, schob sie ihm unter der Tür hindurch.

Nessia
    grinste Inbar über die Schulter, während sie Zettel schrieb und zusammenknüllte.
    Was grinst du so?, fragte Inbar verärgert.
    »Die Wand muss weichen, wenn der Meteor der Liebe kommt.«
    Was?
    Weißt du nicht mehr? Das stand an der Mauer-Galerie in Berlin: »Die Wand muss weichen, wenn der Meteor der Liebe kommt.«
    Vergiss es!
    Die Wand muss weichen …
    Es reicht!
    Wenn der Meteor der Liiiiie-be kommt.

Dori
    wälzte sich zwei Stunden in seinem Bett und schlief bei Morgengrauen für einige Minuten ein, in denen er einen kurzen Traum hatte, eine Art Picture-in-motion: Inbar und er gehen zusammen die Itamar-Ben-Avi-Straße hinunter, bis sie plötzlich ihren Kopf an seine Brust legt, als lägen sie nebeneinander, und so gehen sie weiter nebeneinanderher, liegend, auf eine Art, die allen Gesetzen der Logik und der Schwerkraft widerspricht, und dabei ist es für sie ganz natürlich, und dann kommt ihnen Robespierre entgegen, mit einer Spielzeug-Guillotine in der Hand, und ruft: Es lebe die Revolution, es lebe die Revolution!
    In der Morgendämmerung wartete er auf sie am Eingang des Hostels. Der See schlief noch. Nebel bedeckten die Gipfel der Berge, und er schlang die Arme um sich und lauschte viele Minuten lang den Vögeln, die sich in einer anderen Sprache unterhielten als in Israel.
    Als sie kam, ließ der große Rucksack auf ihrem Rücken sie kleiner erscheinen, als sie war, und er legte seine Handflächen aneinander und fragte: Ich fahre nach Argentinien. Vielleicht kommst du doch mit?

Inbar
    wusste nicht, was antworten.
    Er hatte nicht gefordert: Komm!
    Er hatte gebettelt: Vielleicht doch?
    Gerade dieser verzweifelte Ton ließ ihren nächtlichen Entschluss erste Risse kriegen. Für einen Moment sah er wie ein Kind aus, wie so ein

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