Neuland
Deutschen sind in Polen eingefallen. Warschau wird von der Luftwaffe bombardiert. Der Krieg hat begonnen.
Dann legte er seine Hand auf ihre Schulter.
Es war das erste Mal, dass er es gewagt hatte, sie bei Tageslicht zu berühren, an Deck. Sie schob seine Hand weg und ging ein bisschen auf Abstand. Die Lili am Tag mochte es nicht, berührt zu werden. Die Lili am Tag war Natan treu und wartete mit allen Sinnen und Gliedern darauf, ihn endlich wiederzusehen.
Die Lili bei Nacht, das war eine andere Geschichte.
Um acht Uhr abends schaltete das Schiff alle Lichter an, lichtete den Anker und fuhr in Richtung Tel Aviv.
Einige Frauen holten Schminksachen und Spiegel hervor und machten sich schön für das verheißene Land. Einige Männer holten Rasierklingen heraus und rasierten sich. Fima und sie waren zu erschöpft dafür. Stunden hatten sie zusammen an der letzten Ausgabe der Bordzeitung gearbeitet, an der Lebensgeschichte der beiden Toten und an einem kurzen Kommentar zum Ausbruch des Krieges in Europa, der, so hatten sie gemeinsam beschlossen zu schreiben, »wie unterrichtete Kreise sagen, nicht lange dauern wird«.
Sie hängten die Zeitung an einen der Masten, da niemand mehr in den Schlafsaal hinunterging. Doch auch dort fand sie nicht viele Leser. Dies schien nicht die Zeit zu sein, um über das bittere Schicksal anderer nachzusinnen.
Kommandant Katriel verkündete, das Schiff werde in den nächsten Minuten auf eine Sandbank auflaufen. Wenn es dabei zu sehr nach einer Seite krängen würde, sollten alle gleichzeitig auf die andere Seite laufen, um es auszubalancieren. Kurz darauf ging ein Ruck durch den Schiffsrumpf, einige Hundert Meter vorder Küste. Die Futuro rollte noch ein wenig, dann setzte sie sich ganz ruhig auf die Sandbank. Die Schiffsschrauben gruben sich in den sandigen Grund, bis sie festsaßen. Nie zuvor waren ihnen die Lichter von Eretz Jisruel so nah gewesen. Zum Anfassen nah. Kleine Boote (später würde sie lernen, dass sie Chassake hießen) schwärmten von der Küste zu ihnen aus, die Strickleitern wurden von Deck gelassen.
Lauf, hatte Fima ihr zugerufen, lauf mit Esther, damit du auf eines der ersten Boote kommst.
Und was ist mit dir?
Ich bleibe bei Pessja. Er versteckt sich im Schlafsaal. Er will nicht von Bord gehn. Nach allem, was ihm beim letzten Versuch passiert ist. Ich warte, bis alle an Land sind, dann nehm ich ihn auf die Schulter. Ich will jetzt nicht die anderen aufhalten. Vor allem dich nicht. Mach! Lauf, bevor die Briten an der Küste aufkreuzen!
Sie war gerannt. Ohne ihn zu umarmen, ohne ihm wenigstens einen Kuss auf die Wange zu geben. Niemand sollte auf Gedanken kommen. Mit Esther war sie ins Boot gesprungen. Das Boot hatte kurz in den Wellen geschwankt, nicht lange, und bald darauf befahl man ihnen, ins Wasser zu springen. Mit Kleidern? Mit Kleidern! Mit dem Gepäck? Mit Gepäck! Sie hatten keine Wahl.
Und es gibt noch einen Moment, den sie ganz deutlich aus den Tiefen der Jahre heraufholt: den Moment, in dem ihre Füße den Meeresboden berührten. Esthers Füße, erinnert sie sich, hatten zuerst den Boden berührt, ihre Beine waren länger als Lilis, und sie hatte die Hand nach ihr ausgestreckt und sie zu sich gezogen. Ein paar Wellenschläge schubsten sie weiter, nach Osten, und dann spürte auch sie: Boden.
Ein paar weitere Wellenschläge, und sie waren an Land. Junge Männer standen auf dem Sand und trieben sie mit Rufen und Handbewegungen zur Eile. Für einen Augenblick wollte sie stehen bleiben und ihnen übersetzen, was der verwirrte Knabe, dessen Tefillin ins Wasser gefallen waren, schrie; für einen Augenblick schaute sie sich um und suchte Natan, sie wusste, es war nicht logisch,dass er an der Küste auf sie wartete, aber sie hoffte es trotzdem – da packte eine Hand sie fest am Arm und zog sie hinauf in einen Schuppen, am äußersten Ende des Strandes.
Heute steht dort das Hilton-Hotel – oder ist es das Dan-Hotel ? In allem, was mit der Gegenwart zu tun hat, ist sie unsicher – aber damals gab es dort nur einen Wellblechschuppen. Aus diesem Schuppen streckten sich ihr Arme mit einer Herzlichkeit entgegen, die sie noch nicht »israelisch« zu nennen vermochte. Energische Frauen halfen ihr, das nasse Zeug auszuziehen, und reichten ihr trockene Kleider. Die Hose war für ihren Geschmack zu kurz, und das Hemd war ein Männerhemd, aber sie beschwerte sich nicht. Man bot ihnen ein Glas Tee an. Wie viel Zucker nimmst du in deinen Tee, Kameradin?, fragte sie
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