Neuland
jemand, und sie warf Esther einen erstaunten Blick zu. Wie lange hatte sie diese Frage nicht gehört.
*
Plötzlich das Telefon. Zu später Stunde. Um so eine Zeit ruft sonst niemand bei ihr an. Omilein, sagt eine vertraute Stimme, ich bin’s, Inbar. Schalom , Inbar, sagt sie. Doch lange Sekunden vergehen, bis ihr Gehirn sich erinnern kann, dass es ihre Enkelin ist. Inbar!, wiederholt sie, diesmal aus ganzem Herzen. Wo bist du? Bist du zurück?
Noch nicht.
Wann kommst du zurück, meine Tsipke Fayer?
Nicht mehr lang, Omilein.
Nicht mehr lang und noch mal nicht mehr lang wird auf die Dauer ziemlich lang.
Omi, ich hab heute Nacht von Fima geträumt. Es ist schon das zweite Mal, dass ich von ihm träume.
Von welchem Fima?
Von deinem Fima. Welchen Fima kenne ich denn sonst?
Aber woher kennst du … du weißt doch noch nicht einmal, wie er … wie sieht er denn aus, in deinem Traum?
Groß gewachsen, mit einer Riesenmähne und langen Beinen. So ein richtig schöner …
Was redest du da! Fima war hässlich, er hatte keine Haare, und außerdem war er nicht groß.
Aber er hat Geige gespielt, nicht wahr?
Mundharmonika, und manchmal Trompete.
In meinem Traum hat er Geige gespielt. Auf dem Platz vor dem großen Warenhaus in Haifa, und als er fertig war, bist du mit deinem roten Hut rumgegangen und hast Geld gesammelt. Und Dori und ich haben euch auch etwas gegeben.
Wer ist denn Dori?, versucht sie sich zu erinnern. Inbar redet von ihm, als müsse sie ihn kennen. Dann kennt sie ihn wohl. Aber, verflixt, vor ihrem inneren Auge erscheint kein Bild von ihm.
Das erlaube ich nicht.
Was?
Wer hat dir erlaubt, meinen Fima in deine Träume zu holen?
Inbar lacht.
Lili versucht, sich vorzustellen, wo Inbar ist, doch es gelingt ihr nicht, ihre Enkelin in einer Landschaft zu sehen. Sie hat keine Ahnung, wie es dort aussieht, in Südamerika.
Omilein, weißt du, dass ich dich lieb hab?
Dann komm zurück. Es ist nicht gut für ein jüdisches Mädchen, so lange im Exil zu sein. Das Exil ist eine Strafe, verstehst du? Ein Mensch ohne Zuhause, das ist nicht gut. Und ein Haus ohne Mensch, das ist auch nicht gut. Und eine Enkelin ohne Großmutter ist auch nicht gut. Und eine Großmutter ohne Enkelin erst recht nicht.
Bald komm ich zurück, Omilein. Ich muss hier noch eine Aufgabe zu Ende bringen.
Eine Aufgabe? Wer bist du denn, Emil und die Detektive? Egal. Brauchst du Geld für den Rückflug?
Nein.
Das ist gut, ich habe eh keins. Isst du auch gut?
Ja.
Und bist du anständig angezogen? Putzt du Zähne? Und die Ohren? Redest nicht mit fremden Männern, es sei denn, sie sehen wirklich gut aus?
*
Am Morgen erinnert sie sich nicht mehr an die Einzelheiten ihres Gespräches mit Inbar. So ist das in letzter Zeit, neue Dinge entfallen ihr so lautlos, wie Haare ausfallen, zurück bleibt nur ein allgemeines Gefühl: Chaim aus dem Lebensmittelladen ist wegen irgendetwas besorgt, was nichts mit ihr zu tun hat; Gitta, ihre Freundin, ist völlig durcheinander; der Ministerpräsident ist ein großer Lügner, und Inbar verliebt.
*
Lili hatte damals nicht gewusst, wie es Fima ergangen war. Den Ersten, die an Land kamen, war es gelungen, sich unter die vielen am Strand wartenden Menschen zu mischen, so dass die Briten sie nicht finden konnten. Nach kurzer Zwischenstation in kleinen Schuppen waren sie auf verschiedene Häuser verteilt worden. Sie und Esther – sie hatten darauf bestanden zusammenzubleiben – wurden in eine kleine Wohnung in der Mase-Straße geschickt. Die dort lebende Familie empfing sie zu einem Abendessen. Es gab Tomatensuppe mit Reis, Fischklopse, Krautsalat und Pudding zum Nachtisch. Lili kannte diese Gerichte von zu Hause, doch schien man hier mit mehr Salz zu kochen. Nach dem Essen konnten sie duschen, und in der Dusche, unglaublich, gab es Seife und Handtücher, die frisch rochen! Und sogar eine Waage! (Sie hatte auf der Schiffsreise zehn Kilo abgenommen.) Dann wurden Betten für sie bezogen, richtige Betten, mit Laken! Zwar standen sie dicht nebeneinander auf dem engen Balkon, und die ganze Nacht hindurch umschwirrten sie zionistische Mücken, und auch die Eisenfedern von Esthers Bett quietschten bei jeder Bewegung und störten ihrer beider Schlaf,doch als sie morgens die Füße auf den Boden setzten, schwankte er nicht. Und auf dem Küchentisch standen schon zwei Gläser mit frisch gepresstem Orangensaft. Und dicke Scheiben Graubrot.
Gepriesen seist Du, Gott, dass wir dies erleben dürfen , sagte die Frau
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