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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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es nur anschauen würde, müsste ich mich schon übergeben!
    Dann treffen wir uns in der Wohnung?
    Kein Problem, Kameradin, sagte Esther, und dieses eretz-israelische ejn be’aja kam ihr ganz natürlich und unangestrengt über die Lippen.
    *
    Ihr Schiff krängte sehr, kleine Boote umkreisten es. Alles, was man an Land bringen konnte, wurde abmontiert.
    Wie die falschen Freundinnen einer Witwe, die nach ihrem Tod das Zimmer stürmen und ihren Schmuck an sich reißen, dachte Lili, und ihr war düster zumute. Ihr großes, starkes Schiff war tödlich verwundet. Ein breiter Spalt klaffte an seiner linken Seite, wie der Riss im Gewand der Trauernden. Es sah nicht so aus, als ob die Futuro jemals wieder illegale Einwanderer über die Meere schiffen könnte. Jetzt dachte sie wieder an ihren Vater und an ihre Schwestern, die in Polen zurückgeblieben waren. Was machten sie nun? Einige ihrer Nachbarn im Viertel hatten frühzeitig Fluchtwege vorbereitet, falls der Krieg ausbrechen sollte. Doch ihr Vater war von Natur aus ein Optimist. Er hatte seinen Laden weiterhin jeden Morgen um acht Uhr aufgemacht, ihn um zwei geschlossen und dann wieder von vier bis viertel nach sieben geöffnet. Nachdem man sein Schaufenster mit schwarzen Parolen beschmiert hatte, hatte er lächelnd gesagt, gut, dass wir ein Haushaltswarengeschäft haben, hatte Putzlappen aus dem unteren Fach und Terpentin aus dem obersten Fach geholt, war auf die Straße gegangen und hatte die Parolen mit vier energischen Bewegungen weggewischt, und erst die letzte Bewegung war langsamer und nachdenklicher gewesen.
    Hatte sie schon damals, als sie am Strand stand, gewusst, dass sie ihn nicht mehr wiedersehen würde? Sie ist sich nicht sicher. Mit aller Kraft hoffte sie, dass es ein Wiedersehen geben würde. Unterrichtete Kreise hatten doch gesagt, der Krieg werde nicht lange dauern.
    Ihre Augen ruhten auf einem schwarzen Riemen, der aus dem Sand ragte und ihr zuerst wie ein Stück Teer erschien. Aber siehe da, es waren Tefillin . Die Gebetsriemen, die dem Knaben ins Wasser gefallen waren. Sie zog sie heraus und wickelte sie sich um den Arm. In Warschau wäre sie nie auf die Idee gekommen, sich als Frau Gebetsriemen anzulegen. Doch nun tat sie es einfach und ging zu einem der Schuppen, in dem sie am Tag zuvor ein Glas Tee mit eineinhalb Löffeln Zucker bekommen hatte, um zu fragen, wohin sie ihren Fund bringen sollte. Der erste Schuppen war verschlossen; vor dem zweiten standen zwei braun gebrannte junge Männer und bügelten Hosen auf einem Baustellenbrett, das auf zwei Türmen aus Ziegelsteinen lag. Die schickten Lili mit den Gebetsriemen in die Lagerschuppen am Hafen und zeichneten ihrsogar eine kleine Karte auf eine Papierserviette. Dort, sagten sie ihr, würden alle Gegenstände, die man aus dem Wasser gezogen hatte, ausgelegt, und wer etwas verloren habe, komme und hole es sich. Sie waren nett gewesen, und doch hatte sie sich in ihrer Nähe schmerzhaft fremd gefühlt und sich schnell wieder verabschiedet.
    Sie ging durch die lauten Straßen, folgte der improvisierten Karte, und ihre Blicke suchten Fima – ihn wollte sie finden und wollte auch nicht. Autobusse fuhren an ihr vorbei, sie sah Verkehrsschilder, ein Poster warb für eine Aufführung mit dem Titel »Vertrauensbruch«, und ein anderes für die kommenden Makkabiade -Spiele. Die Leute trugen Schirme, nicht gegen Regen, sondern gegen die Sonne, und die brannte ihr auf den Kopf, den Nacken, den Rücken; und sie ging weiter, obwohl sie das Gefühl hatte, der Puls, den sie spürte, gehörte nicht zu ihr, genauso wenig wie der Atem aus ihrem Mund und die Schritte, die sie machte. Ein Krankenwagen mit einem Davidstern auf der Kühlerhaube fuhr an ihr vorüber; für einen Moment wollte sie ihm ein Zeichen geben, damit er anhielt und sie ins Krankenhaus brachte. An einem Kiosk kaufte sie eine kalte Limonade. Man hatte jedem zehn Grusch pro Tag zugeteilt, die wollte sie eigentlich nicht so schnell verschwenden, doch der Durst war unerträglich. Gegenüber dem Kiosk an einer Hauswand stand geschrieben: »Raus mit der Hure Britannia«. Überall gab es hebräische Schilder. Eigentlich hätte sie das begeistern müssen, doch auch nachdem sie in Gedanken ein Ausrufezeichen gesetzt hatte, um den Eindruck zu verstärken, berührte es sie nicht wirklich.
    Schließlich gelangte sie zu den Lagerschuppen. Dort wimmelte es nur so von Menschen. Jeder, den sie bat, wenigstens den Namen des Schiffes zu notieren, von dem die

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