Neuland
Alfredo ihr sagte, dass Dori nicht da ist. Ist es normal, dass sie sich da erleichtert fühlt? Liebt sie ihn überhaupt noch? Als sie ihn vor zehn Jahren bei Shlomo Bar trommeln sah, wollte sie doch nur mit ihm schlafen. Seinen Code knacken und so weiter. Aber der Sex mit ihm war eine solche Überraschung. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr noch jemand etwas Neues zeigen könnte, bei der reichen Erfahrung, die sie im Kibbuz gesammelt hatte, doch Dori hat ihr beigebracht, dass das Vorspiel nicht langweilig sein muss. Und morgens hat er ihr sehr aufwendige Omelettes gebacken. Mit Beilagen, die sie in einer halben Minute verschlungen hat, während er sie noch lange weiter genoss, eine nach der anderen. Das hatte sie lustig gefunden, seinen Rhythmus. Und er hatte ihr Herz zu ihm hin geöffnet, wie sie es überhaupt nicht für möglich gehalten hatte. An Tagen, wo er länger an der Uni blieb als sie, hatte sie in der Wohnung in Rechavia auf ihn gewartet, unter dem dicken Federbett, nur mit einem Slip, damit er wenigstens etwas zum Ausziehen hatte, sie hatte nicht gelesen, nicht ferngesehen, nicht die wichtigen Stellen in ihren Seminaraufzeichnungen markiert, sondern nur Arkadi Duchins CD »Ich will es und es wird sein« gehört und auf ihn gewartet, mit einer Ruhe, die sie sonst nicht kannte, im Wissen, dass er bald kommen würde, sich bis auf die Unterhose ausziehn, zu ihr unter die Decke kriechen und sich von hinten an sie drücken würde.
Aber all das war lange her. Absolut lange. In den letzten Jahren war sie hinaus in die Welt gegangen, und er war unter dem Federbett geblieben. Eben so ein richtiger – Jerusalemer.
An der Uni hatte sie einen Dozenten gehabt, der einmal an die Tafel schrieb: Liebe = gegenseitige Abhängigkeit unter Wahrung der Eigenständigkeit des anderen. Als ob man Liebe definieren könnte. A-ha-va ist ein zu langes Wort, zu viele Silben. Leib. Zeit. Dort. Hier. Gib. Nimm. Geh. Komm – diese Wörter passen viel besser in den Lebensabschnitt des Kindergroßziehens. Dori mochte Danny Robas. Sie nicht. Sie fand das altmodisch. Er spielte ihn Neta auf dem Weg zum Kindergarten vor, und danach sang Neta. Ich komme aus der Nacht nach Haus / mach das Licht im Treppenhaus an. Einfach umwerfend, dieses Kind. Wie kommt es, dass die ganze Welt das nicht sieht? Aber wie lange er schaukelt, ist das nicht doch etwas autistisch? Sollen wir jetzt zu den Rutschen? Nein? – Dann nicht. Die Hamas hat gestern einen Soldaten entführt. Nicht weit von Gaza. Sein Foto ist in der Zeitung. Ein Kindergesicht. Zum Schluss wird auch Neta zum Militär gehen. Vielleicht passiert bis dahin ein Wunder, und es zeigt sich bei ihm irgendein kleiner gesundheitlicher Schaden, etwas, das ihn sonst nicht beeinträchtigt, aber seine Tauglichkeit einschränkt. Aber das wird nicht passieren. Nie im Leben würde Dori zustimmen, dass sein Sohn keinen Wehrdienst macht. Manchmal versteht sie ihn nicht. Zum »Marsch der Lebenden« seiner Schüler in Polen fährt er nicht mit, weil das nur »ihre Selbstwahrnehmung als Opfer verstärke«. »Man sollte sie lieber mit dem Bus in das zehn Minuten entfernte Museum meiner Mutter fahren, damit sie Stolz auf die wunderbaren Errungenschaften des goldenen Zeitalters entwickeln.« Und andererseits erscheint er zu jeder Aufforderung zum Reservedienst gehorsam wie ein Hündchen. Nicht wegen seiner Kumpels, die Kameraden vom Reservedienst kann er nämlich eigentlich nicht ausstehen, sondern einfach »weil das ein Teil unseres Lebens hier im Land ist«. And you can’t have your cake and eat it. Vielleicht sollte sie, wenn man sie das nächste Mal fragt, antworten, Dori sei auf Reserve. Stattdieser dummen Lüge mit dem Lehreraustausch. Sollen sie doch diesen entführten Soldaten austauschen, egal gegen wie viele Gefangene. Dieses Kindergesicht. Schon fünf Anrufe in Abwesenheit. Fünf ! Was soll sie mit ihren Produktleitern machen? Was sie da leitet, ist ein Kindergarten. Von wegen Kindergarten, eine Krabbelgruppe!
Endlich ist Neta bereit, von der Schaukel zu steigen. Er dreht ein paar Runden mit dem Roller, fällt plötzlich hin und brüllt, als ginge es ihm ans Leben. Sie bricht das Gespräch mit ihrem Untergebenen abrupt ab und rennt zu ihm hin. Dieser BH kneift. Nichts Schlimmes, alles in Ordnung, es blutet nicht. Jetzt will er nicht mehr Rollerfahren. Er will nach Hause. Zu Hause Abendessen, Duschen, Zähneputzen, Gutenachtgeschichte, noch eine Geschichte. Deck mich zu. Noch mal deck mich zu.
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