Neuland
keine Zeit, müde zu sein, alles muss bis halb vier fertig werden. Wie soll sie das alles bis halb vier schaffen? Als Dori hier war, war sie bis sechs geblieben, das heißt bis sechs Uhr fünfundzwanzig. Aber sechs klingt etwas mütterlicher, und bei fünfundzwanzig kann man immer noch abrunden, ohne den Eindruck zu haben, dass man lügt. Schon seit zwei Wochen rundet sie nicht ab, schaltet den Computer um halb vier aus. Wenn einer der Produktleiter sie sprechen will, bittet sie ihn, sie zum Fahrstuhl zu begleiten. Wie Kinder sind sie, ihre Produktleiter. Sie hatte gedacht, dies sei eine Gelegenheit, Verantwortung abzugeben, aber die klammern sich an ihre Schürze, wollen ihre Meinung hören, wollen im Grunde, dass sie die Entscheidungen für sie fällt, weil sie selbst nicht den Mut haben, Fehler zu machen. Als sie Produktleiterin war, ist sie nicht so gewesen. Ist es vielleicht ihre Schuld? Hat sie ihre Mitarbeiter nicht genug ermutigt? Doch wann hätte sie Zeit dafür gehabt? Ergebnisse, sie muss Ergebnisse liefern. Entwicklungsprozesse sind eine schöne Sache, aber nur, wenn sie kurz sind und zu Profiten führen, zu guten Verkaufszahlen. Und jetzt muss sie alle diese Ziele bis halb vier erreichen und um drei Uhr fünfunddreißig den Mazda auf drive stellen, denn in den Kindergarten darf sie nicht zu spät kommen. Auch so denkt schon das ganze Team dort, dass sie eine Rabenmutter ist. Weil sonst immer Dori kommt. Seid ihr neu hier im Kindergarten?, hat eine Mutter gefragt, die genau wusste, dass sie zu Neta gehört. Nein, hat sie geantwortet und versucht, gelassen und kühl zu bleiben, ich bin Netas Mutter, normalerweise bringt sein Vater ihn …aber der ist jetzt im Ausland. Eine Arbeitsreise, ja. Lehreraustausch. Das ist wie Studentenaustausch, nur ein bisschen kürzer. Eine Woche, das heißt, zwei Wochen. Ob sie Hilfe brauche? Nein danke.
Sie zögert noch immer, ein Treffen mit anderen Kindern zu initiieren, trotz der Fortschritte der letzten Woche, aber vielleicht auch gerade deswegen: aus Angst, eine Absage könne alles wieder kaputt machen. Und auch, weil es ihr mit Neta zu Hause eigentlich ganz gut geht. Zu zweit. In den ersten Tagen hat er geweint, als sie und nicht der Papa ihn abholen kam, und sie hat sich sehr zusammennehmen müssen, nicht beleidigt zu sein. Ganz langsam hat er dann Fühler der Freude zu ihr ausgestreckt. Jetzt schlafen sie nachts zusammen. Er braucht nicht viel Platz, und er hat den guten Körpergeruch seines Vaters. Ab und zu kriegt sie seinen Fuß mitten ins Gesicht, das nimmt sie mit Liebe. Aber die Morgenstunden sind schwer. Er hat sich an Doris verträumte Langsamkeit gewöhnt, und sie möchte alles zügig hintereinander erledigen und schnell ins Büro. Los, Neta, die Hosen, das Hemd, Zähneputzen. Alleine? Nächstes Mal darfst du die Zahnpasta selbst drauftun. Was weinst du denn jetzt? Ist das ein Grund zum Weinen? Na gut, komm, ich wasch die Zahnpasta ab, und jetzt darfst du sie noch mal selber drauf tun. Wo sind deine Sandalen? Hier. Sie drücken? Andre haben wir jetzt nicht. Auf, Neta, ich bin zu spät dran. Wieso willst du denn jetzt mit Papa reden? Das passt auch nicht von der Uhrzeit her. Hab ich dir doch schon erklärt. Warum? Weil die Erde sich dreht. Wir können heute im Computer nachschauen, wenn du willst, vielleicht befriedigt dich die Erklärung da mehr. Ja, wir rufen Papa an, wenn du aus dem Kindergarten kommst. Aber diesmal sprichst du mit ihm, bitte, sei so gut, ja? Er findet es nicht schön, wenn du nicht mit ihm sprichst. Gut, mein Schatz? Du bist so hübsch, ich kann kaum glauben, dass aus mir ein so hübsches Kind rausgekommen ist. Ja, du warst bei mir im Bauch. Acht Monate. Und du wolltest unbedingt raus, deshalb hast du einen Monat abgekürzt. Nein, Papas können nicht schwanger sein. Ihr Bauch geht dafür nicht. Warum? Wenn wir nachher im Computer nachschaun, wie die Erde sich dreht,dann gucken wir auch das nach, okay? Auf den Arm? Wieso denn plötzlich auf den Arm, du bist doch schon groß. Na gut, dann trag ich dich, Hauptsache, wir kommen aus dem Haus.
Als sie aus dem Kindergarten zurück sind, rufen sie Alfredos Telefon an. Keine Antwort. Sie versucht es noch einmal, denn Neta wartet sehnsüchtig und sie will ihn nicht enttäuschen. Diesmal antwortet Alfredo. Er klingt immer, als hätte man ihn gerade beim Ficken gestört, etwas außer Atem und schläfrig. Hello, Misses Dori, how are you? Alles okay, sagt sie kurz, ist Dori bei Ihnen? Was heißt das,
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