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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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in der Altstadt gesehen hat, nach zu schließen, sind die Inkas überhaupt nicht vertrieben worden. Und auch die Spanier sind noch hier, samt ihrer Sprache und ihren kolonialen Gebäuden. Dem, was er in der Neustadt gesehen hat, nach zu schließen, ist Ecuador aber kein unabhängiger Staat, sondern ein weiterer Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika, dessen Bürger in Dollars bezahlen, Levis tragen und Madonna hören.
    Das macht er gerne. Er liebt es, im Unterricht die Risse in der offiziellen Geschichtsschreibung zu verbreitern, damit seine Schüler das sehen, was über den Prüfungsstoff fürs Abitur hinausgeht. Ich unterrichte keine Geschichte, erklärt er ihnen immer in der ersten Stunde, ich unterrichte Geschichten. Das Mittelalter? – Das war gar nicht so finster. Der Zweite Weltkrieg? – Man muss nicht fragen, warum Amerika in den Krieg eingestiegen ist, sondern warum erst so spät. Die Schoah? – Ist nicht nur unsere. Auch andere Völker haben Genozide erlebt, obgleich das in eurem Abiturstoff nicht vorkommt. Der Unabhängigkeitskrieg? – Wer sich die Zahlen genau anschaut, sieht, es waren nicht wirklich ein paar wenige gegen die vielen. Ja, liebe Schüler, ihr müsst immer bedenken, dass die Geschichte in der Regel von den Siegern geschrieben wird, deshalb lohnt es sich, misstrauisch zu sein.
    Eine Woche ist seit dem letzten Unterrichtstag vergangen. Lustig, er erinnert sich, dass gerade die 11d, zu deren Klassenzimmer er immer etwas langsameren Schrittes ging und die er das ganze Schuljahr über nicht hatte begeistern können, dass ausgerechnet diese Klasse ihm den schönsten Abschied bereitet hat. Sie hatten ihm die neue CD von Yuval Banai gekauft (woher wussten sie, dass er …? Erst zu Hause kam er drauf. Als sie den Zweiten Weltkrieg durchnahmen, hatte er ihnen den Song »Ich kann das nicht mehr anhalten« vorgespielt, um sie etwas an das Erleben eines Soldaten im Krieg und an die Erinnerungen, die ihn nachher quälen,heranzuführen), und Roi Jacobi war zum Pult gegangen, hatte ihn gebeten, sich auf seinen Platz zu setzen, und »den Fokus richtig einzustellen«, wozu er selbst seine Schüler immer aufforderte, und war mit einer gar nicht schlechten Imitation fortgefahren, samt Doris dramatischer Handbewegungen, der Kappe des Markers, die ihm im Eifer des Unterrichts immer wieder wegfliegt, seiner Forderung, »ich will hören, wie sich bei euch im Kopf die Rädchen drehen«, seinen Metaphern aus dem Bereich des Basketballs, die nicht immer wirklich passen, und seiner obsessiven Antipathie gegen Mobiltelefone und SMS, sogar, wie butterweich seine Stimme wird, wenn er am Handy mit Neta spricht, ahmte Roi nach, und seine Angewohnheit, während der Prüfungen am Fenster zu stehen und sich versonnen über einen nicht vorhandenen Bart zu streichen. Mit dem sehnsüchtigen Blick in den Schulhof, als konzipierte er gerade noch einmal »Altneuland«, obwohl er tatsächlich darüber nachdachte, ob nicht besser Dror Hajaj das Fünferteam von HaPoel anführen sollte. Und obwohl alle lachten, hörte er mehr Zuneigung als Spott heraus. Und auch er hatte gelacht und geklatscht, und als Roi fertig war, hatte er sogar die Arme nach vorne ausgestreckt und den Kopf geneigt, zu der Verbeugung der Fans im Malcha-Stadion, und dann hatten sie ihm ihr Geschenk und den Glückwunsch überreicht: ein gerahmtes Foto. Mit Photoshop hatten sie ihn in das berühmte Bild von Churchill, Roosevelt und Stalin bei der Konferenz von Jalta montiert, und darunter hatten sie geschrieben: Für Dori, den Lehrer fürs Leben, danke, dass Sie uns in die Geschichte eingehen ließen. Nach der Stunde war er mit dem gerahmten Bild nicht ins Lehrerzimmer gegangen, damit es nicht den dort stehenden Geruch der Bitterkeit annahm, sondern direkt zur Bushaltestelle, und hatte sich in seltener Genugtuung gesagt, dass er vor zehn Jahren doch die richtige Wahl getroffen hatte. Bis zu dem Unglück beim Rockfestival und der Ermordung Rabins war er sich sicher gewesen, dass er weiterstudieren würde. Aber nach diesen beiden Ereignissen, die sich im Abstand von wenigen Monaten ereignet hatten, hatte er den unbändigen Drang verspürt,näher ans Leben ranzugehen, die Wirklichkeit mitzugestalten und sie nicht nur vom Elfenbeinturm der Bibliographie aus zu betrachten, und siehe da, es wurde wahr. Ja, für solche Momente, in denen er spürte, dass er an die Kinder rankam und etwas in ihnen bewegte, dafür lohnte es sich, alles andere zu ertragen: das

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