Neuland
Sehnsucht.
Wie Du bestimmt gemerkt hast, hab ich Oberschlauer mein Handy zu Hause liegen lassen. Deshalb schreibe ich.
Wie geht’s Neta? Wie läuft es im Kindergarten? Wacht er nachts auf?
Richte ihm von mir Umarmungen und Küsse aus. Sag ihm, dass sich Papa nach ihm sehnt. Und ändere den Wortlaut nicht, okay? Sag es ihm genau so. Soll die Psychologin zum Teufel gehn.
Morgen versuche ich, euch von Alfredos Büro aus anzurufen.
*
Willkommen in meinem Büro, sagt Alfredo und zeigt auf einen Caravan. Erste Streifen Licht erhellen die stille Straße.
Ein bisschen enttäuscht steigt Dori hinter ihm die drei Stufen hinauf, er hatte sich ein weitläufiges Büro in einem der hohen Gebäude vorgestellt, die er auf dem Weg hierher gesehen hat. Doch beim Eintreten schlägt die Enttäuschung in Staunen um. Zwei Laptops auf einem blank polierten, langen Schreibtisch, einer weiß, einer schwarz. Zwei Mobiltelefone. Und ein Satellitentelefon. Über dem Schreibtisch hängen ein großer Kompass und sechs Uhren, die die Zeit in New York, Tokio, Bangkok, London, Sydney und Quitozeigen. An der rechten Wand Landkarten so dicht nebeneinander wie in einer Einsatzzentrale . An der Wand hinter dem Schreibtisch gerahmte Dankesbriefe und Fotos, auf denen seine Kunden ihn umarmen: die kleine Verlegenheit von Leuten, die sich noch nie zusammen haben fotografieren lassen. Alfredo in den Armen von Frauen, Männern, jungen und alten Leuten, hier mit einem Herrn, der wichtig aussieht. Der wichtige Herr lehnt sich eher an Alfredo, als dass er ihn umarmt. Seine Augen sind geschlossen. John Moving, sagt Alfredo, als er merkt, dass Dori bei diesem Foto verweilt, Senator aus Arizona. Beim Rafting auf dem Chicamocha-Fluss in Kolumbien ist das Boot seiner Tochter in einen Strudel geraten, und sie ist dabei über Bord gegangen. Zwei Monate lang hat er sie gesucht und nichts gefunden. Ich habe genau zwei Tage gebraucht, um den Fluss zu verstehen. Weißt du, Mister Dori, was es bedeutet, einen Fluss zu verstehen? Jede seiner Biegungen, jeden Felsen zu kennen und zu kapieren, wohin das Wasser in jedem Moment will. Zu wissen, dass der Fluss an jeder Stelle eine andere Intensität hat und dass auch die Sonne anders blitzt. Nach zwei Tagen stand ich an einer bestimmten Stelle am Ufer und habe ihm gesagt: Sucht hier, unter diesem Felsen. Seine Leute meinten: Kann nicht sein, das ist überhaupt nicht in der Nähe der Stelle, wo sie über Bord gegangen ist. Ich sagte: Schaut nach, was habt ihr zu verlieren? Da haben sie ihre Leiche gefunden. Natürlich.
Wie kühl er »Leiche« sagt, denkt Dori.
Einer der Computer pfeift. Das Symbol eines Umschlags schwebt über den Bildschirm – und geht dann in Flammen auf. Alfredo ignoriert das.
Sag mal … ist das nicht sehr teuer … diese ganze Ausrüstung?, fragt Dori. Hast du jemanden, der das nachts bewacht?
Statt zu antworten, nimmt Alfredo eine kleine Fernbedienung, die an der Wand neben dem Kompass hängt, und betätigt sie.
Eine Kiste, die unter dem Schreibtisch stand, kommt auf einer Schiene hervorgefahren und öffnet sich wie ein Geschenk mit einem Ruck zu einem Bett für einen ausgewachsenen Menschen.
Ich mag keine Hotelzimmer, kommentiert Alfredo und fragt, bist du bereit, Dori, können wir los? Die mochila , die ich dir gekauft habe, liegt auf der Rückbank; da sind auch noch ein paar Sachen zum Anziehn. Dein Koffer wird, denke ich, bis heute Abend ankommen.
Sie sitzen beide schon in der Fahrerkabine, und Alfredo hält den Autoschlüssel in der Hand, da erhält er einen Anruf, und in den folgenden Minuten beruhigt er einen Jeremy aus Australien: ein psychotischer Anfall. Man weiß noch nichts. – Vermutlich Peyotl. Das ist ein verdammt starkes Zeug. – Er ist in Behandlung, ja natürlich, in Behandlung. Zyprexa. – Ich bin die ganze Zeit mit ihnen in Kontakt. Und ich habe auch jemanden, der in der Notaufnahme sitzt. – Natürlich können Sie hierher fliegen. Es ist Ihr Sohn, und es ist Ihre Entscheidung. – Ich? Ich empfehle das nicht. Das kann seinen Zustand verschlimmern. – Wenn er Sie sieht, ja, genau. Ich hoffe, ich kann ihn morgen in eine Maschine von British setzen. – Nein, bisher wollen sie ihn noch nicht entlassen, aber meine Leute tun ihr Bestes. Jetzt sollten wir uns erst mal freuen, dass wir ihn gefunden haben. – Sie wollen kommen? Ich sage Ihnen noch einmal … in Ordnung. Völlig in Ordnung. Sie sind der Boss, Jeremy.
Alfredo beendet das Gespräch und zischt durch die
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