Neuland
aufgestanden und gegangen. Ich weiß das noch genau, denn sie haben mich aus der Klasse geholt, damit ich ihnen beim Suchen helfe. Zum Schluss haben wir ihn auf einem Baum entdeckt, und er sagte, er komme erst runter, wenndie Lehrerin sich bei ihm entschuldigen würde. Da war er neun, verstehen Sie? Und mit sechzehn hat er sich in seine Gruppenleiterin von der sozialistischen Jugendbewegung verliebt. Die hieß Avivit, war drei Jahre älter als er, so eine richtige Schönheit, mit Locken. Im Grunde ein bisschen wie seine Frau. Ganz Jerusalem hat davon gesprochen. Sogar die Leute in meinem Alter. Und warum? Als sie sagte, das ginge doch nicht, eine Gruppenleiterin und ein Schutzbefohlener, das sei gegen die Gesetze der Bewegung, da sprühte er ein Graffito an den Holzschuppen im Viertel Russian Compound : In der Liebe gibt es keine Gesetze, Avivit . Alle dachten, jetzt wäre er übergeschnappt, außer meiner Mutter. Sie fand das wunderbar. Sie fand überhaupt alles, was er machte, wunderbar, auch wenn der gefurzt hat, fand sie das wunderbar. Sie hatten eine besondere Beziehung, Dori und meine Mutter. Sie haben sich geliebt, ohne sich dabei anstrengen zu müssen. Bei seinem Wehrdienst hat Dori sie nachts angerufen, wenn er zum Wacheschieben eingeteilt war, und sie haben bis zum Morgen geredet. Wenn ich ihr dann etwas sagen wollte, hat sie nur so eine Handbewegung wie »nicht jetzt« gemacht. Dori hat es schwer gehabt bei der Armee. Beim Einmarsch in den Libanon durften nur Männer mit über die Grenze, und so konnte er sich da in niemanden verlieben. Es gibt bei der Armee eine ganze Menge ziemlicher Idioten, und er ist klug, mein Bruder, sehr viel klüger als ich. Sie werden das sehen, wenn Sie mit ihm reden. Seine Schüler verehren die Erde, auf die er seinen Fuß gesetzt hat, ehrlich!
Sí, claro , sagte ich und schnitt mir zum Nachtisch einen Apfel auf. In der Zeit, in der diese Seela redete, konnte man gemütlich ein Neun-Gänge-Menü essen.
Kurz gesagt, fuhr sie fort, in der ganzen Zeit, in der er im Libanon war, hat unsere Mutter ihm geholfen, den Kopf über Wasser zu halten. Und auch in den Jahren danach hatten sie ihre eigenen Rituale. Verstehen Sie? Deshalb mach ich mir jetzt auch Sorgen um ihn. Nach ihrem Tod hat ihm seine Arbeit Halt gegeben. Seine Arbeit, und auch Neta. Wer so ein Kind hat, kann sich kein Selbstmitleid erlauben. Nein, Neta ist kein Autist, im Gegenteil, er sucht die ganze Zeit Kontakt, aber er schafft es irgendwie nicht. Schwer zu erklären, der Junge weint die ganze Zeit. Dabei ist er überhaupt nicht verwöhnt, es ist eher, als wäre er schon so traurig zur Welt gekommen. Aber Kinder sollten nicht traurig sein. Sie wissen doch noch nicht, dass das Leben ein einziger langer Schmerz ist, mit seltenen Pausen der Freude. Ich hab meine eigene Theorie, was ihn betrifft, aber lassen wir das, ich erzähle Ihnen sowieso schon zu viel. Sie denken sicher, was die alles zusammenschwätzt. Bestimmt sagen Sie sich auch, jetzt versteh ich, warum die keinen Mann hat, wenn sie so viel schwätzt.
Nein, überhaupt nicht, Seela, sagte ich, was sie von mir erwartete.
Jedenfalls, Alfredo, machte sie weiter, was ich sagen wollte, ist, wenn Dori in ein paar Tagen zu Ihnen kommt, dann hat er kein Sicherheitsnetz mehr aus Arbeit und Familie, das ihn vor dem Absturz bewahrt. Ich sage nicht, dass Sie dann auch nach ihm suchen müssen, Alfredo, ich sage nur, passen Sie bei Ihrer Suche auch ein bisschen auf ihn auf, und wenn Sie etwas Ungewöhnliches an ihm bemerken, rufen Sie mich bitte an.
Keine Sorge, ich passe auf ihn auf wie auf meinen eigenen Sohn, versprach ich ihr am Ende des Gespräches.
Ich habe gar keinen Sohn. Jemand wie ich, der jeden Morgen woanders aufwacht, kann kein guter Vater sein, und lieber gar nicht Vater sein als ein beschissener – aber Seela weiß das alles nicht, und dann ist es auch egal.
Dori
schlägt die Augen auf. Der einlullende Rhythmus der Fahrt im Caravan hatte ihn für ein paar Minuten einnicken lassen, genug für einen blitzartigen Traum. Zu Hause erinnert er sich nie an seine Träume, aber jetzt erinnert er sich ganz genau, dass er nach Netagesucht hat – ja, nicht sein Vater, sondern Neta war ihm verloren gegangen, und er und Ze’ela hingen ein Purim -Foto, auf dem er als Napoleon verkleidet ist, an die Anzeigentafel im Viertel.
Look to your right, Mister Dori , sagt Alfredo. Hinter dem Fenster des Caravan erstreckt sich eine Landschaft, die einen frei atmen lässt: ein
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