Neuland
auch nur eine Chance haben wollen, sie freizubekommen, dann müssen Sie jetzt Ihren Geldbeutel aufmachen und der lokalen Polizeistelle eine Spende zukommen lassen. So funktioniert das in Bolivien. Wie viel?, erkundigen sich die Eltern am anderen Ende der Leitung, und Alfredo hält inne, übersetzt vielleicht gerade im Kopf die bolivianische Währung in Sterling, oder berechnet, wie viel Profit bei diesem Geschäft für ihn herausspringt.
Und plötzlich bremst er. Eine kleine Schlange von Fahrzeugen mit abgeschalteten Motoren. Alfredo bittet seinen Gesprächspartner um Verzeihung, macht das Telefon aus und flucht. Was ist passiert? Er hat keine Ahnung. Er steigt aus dem Caravan und kommt nach einer Minute zurück. Eine Demonstration, erklärt er Dori. Die Regierung möchte hier zur Stromgewinnung einen Damm bauen, aber die Leute aus den Dörfern, die vom Fischfang leben, sind dagegen. Deshalb halten sie den Verkehr an, und bis die Regierung erklärt, dass sie ihren Damm nicht baut, machen sie einen Damm aus Fahrzeugen.
Und was tun wir jetzt?, fragt Dori.
Das kommt auf dich an, sagt Alfredo, wir können warten, bis die Demonstration vorbei ist, und wir können einen anderen Weg nehmen; der ist weniger sympathisch, bringt uns aber rechtzeitig nach Otavalo.
Wie lang wird es dauern, bis man sie von der Straße räumt?, fragt Dori mit einer Handbewegung in Richtung der Demonstranten.
Zwischen zwei Stunden und sieben Tagen, sagt Alfredo.
Der andere Weg bröckelt an den Rändern schon, und ein paar Minuten, nachdem sie abgebogen sind, beginnt es zu regnen. Dori ist von zu Hause daran gewöhnt, dass sich der Regen im Himmel über mehrere Stunden zusammenbraut, bevor er es wagt, ein bisschen zu tröpfeln, und so erwischen ihn die ersten Tropfen durchs offene Fenster unvorbereitet, und sein Hemd wird nass. Er kurbelt das Fenster hoch. Binnen Sekunden wird aus dem Tröpfeln ein richtiger Wolkenbruch. Der Staub der Wegesränder wird zu Matsch, den die Räder des Caravans seitlich wegspritzen.
Alfredo, sagt er , isn’t it dangerous ?
Don’t you worry, Mister Dori , sagt Alfredo und drückt aufs Gas. Es fühlt sich an, als gäbe es nur noch einen schmalen Streifen feste Erde, der das Gewicht des Wagens aushalten muss. Links und rechts von ihnen rutscht alles in den Abgrund.
Als Kind hat er solche Gefahren gemocht: auf Bäume zu klettern, von denen man nicht mehr herunterkam, als Erster den Wasserfall im Nachal Jehudija runterzuspringen. Auch im Libanon, als in seinem Abschnitt Granaten fielen, fürchtete er keinen Moment um sein Leben. Doch seit er Vater ist, fürchtet er sich vor allem; schon die kleinste Bedrohung weckt Todesängste in ihm. Es reicht, dass ein Taxifahrer bei Gelb über die Ampel fährt oder dass seine Temperatur über achtunddreißig steigt, und schon steht ihm das Bild seines eigenen Begräbnisses vor Augen. Es sieht immer gleich aus: Man beerdigt ihn neben seiner Mutter in dem Grab, das eigentlich für seinen Vater bestimmt ist. Ze’ela schluchzt, alsder Rabbiner zum Gott voller Erbarmen schreit, Roni nicht. Roni schluchzt nicht. Sie ist beherrscht, nobel. Sie trägt ein schwarzes Kleid, in dem man sieht, wie schön sie ist, und zwei Männer, die er nicht kennt, stützen sie links und rechts, und Neta steht vor ihr, er reicht ihr bis zur Hüfte und schaut zu, wie man seinen Vater mit Erde bedeckt; er wirkt verloren, vaterlos –
Alfredo nimmt den Fuß vom Gas. Die Straße hat scharfe Kurven, ein Laster kommt ihnen entgegen, doch die vom Regen aufgelöste Fahrbahn ähnelt einem Ziegenpfad, da ist kein Platz für zwei Fahrzeuge, und so legt er den Rückwärtsgang ein. Er versucht es zumindest. Dieses Manöver erscheint Dori gefährlich, ja unmöglich. Ein Gefühl von »das war’s dann wohl« jagt ihm einen Schauer über den Rücken. »Das ist jetzt wirklich das Ende«, weiß er bei einem Stich in seinem Unterleib. Doch irgendwie kommt der Lastwagen an ihnen vorbei, ohne den Caravan zu streifen und ohne selbst ins Ungewisse abzustürzen.
Listen, Alfredo , sagt Dori, maybe …
We make a stop in a minute , sagt Alfredo.
Bei einer Hütte mit rotem Coca-Cola-Schild halten sie an.
Der Besitzer kennt Alfredo. Jeder kennt Alfredo. Der Besitzer hat ein verhutzeltes Gesicht, aber schwarzes Haar wie ein junger Mann, und er trägt einen Pulli wie Amos Oz ihn trägt, wenn er fotografiert wird. Dori bestellt eine Cola, doch hier gibt es nur Inka Cola. Trink, sagt Alfredo zu ihm, das schmeckt gut. Dori trinkt.
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