Neuland
großer See mit klarem Wasser, in dem sich die Wolken spiegeln, und rundherum Berge, lauter Bergketten bis ins Unendliche. Und in alledem weder ein Autobahnkreuz noch eine neue Stadt mit Hochhäusern oder eine ganze Schlange Geländewägen, nichts, was diese Landschaft verletzt.
Ich muss noch einmal mit Neta hierherkommen, denkt sich Dori (wenn er früher schöne Orte besuchte, dachte er sich: Hierher will ich zurückkommen mit einer Frau, die ich liebe). Der Junge weiß gar nicht, was Weite ist. Alle freien Eckchen von Jerusalem sind in den letzten Jahren zubetoniert worden: durchs Zederntal führt jetzt eine Straße, bei Lifta gibt es ein Straßenkreuz, das Hirschtal blieb zwar unberührt, aber oberhalb davon haben sie diese »Holyland«-Immobilie hingeklotzt. Nur das Sataf-Tal ist noch nicht bebaut. Aber sogar unter der Woche stauen sich die Fahrzeuge dorthin. Deshalb sind Roni und er mit Neta an entferntere Orte gefahren. Nach Galiläa oder in den Negev. Sie haben schon am Freitagabend gepackt und standen am Schabbat früh um sechs auf, um nicht in die Staus zu kommen. Sie bogen bald von der Hauptstraße ab und schaukelten mit Ronis Dienstwagen über ungeteerte Holperwege. Doch sobald sie an dem denkbar abgelegensten Ort ihre Strohmatten ausgebreitet hatten, kam nach ein paar Minuten eine weitere Familie mit eigenen Matten, einer Kühltasche und einem tragbaren CD-Player, der das Blätterrauschen übertönte.
Im Gegensatz dazu erscheint es ihm jetzt, als ob hier alles im Angesicht der hohen Bäume, der Berge und der tiefen Canyons , in denen lebendiges Wasser und nicht Abwasser fließt, verstummt. Die Sonne blitzt zwischen den Wolken hindurch und lässt ihre Strahlen auf dem See tanzen. Was ist das für eine Farbe? Nicht wirklich Blau und nicht wirklich Grün. Ein bisschen Violett. Aufdiesem See gibt es keine Wellen, keinen Schaum. Ein kleines Ruderboot teilt langsam das Wasser und zeichnet mit seiner Spitze ein Fragezeichen.
Wann hat er zuletzt so über die Schönheit gestaunt? Vermutlich im Sinai, bei seinem letzten Besuch bei Said in Ras Al-Satan. Das Taxi war auf die Hütte zugefahren, und der Anblick der Küstenlinie mit dem Fels in Form eines Pilzes auf seiner Spitze hatte ihn begeistert. Aber auch den Sinai hatten sie ihm kaputtgemacht, vor zwei Jahren. Als die ersten Bilder des Anschlags gesendet wurden und er begriff, dass das an »seinem Strand« passiert war, hatte er angefangen zu weinen. Nicht einmal bei der Beerdigung seiner Mutter hat er geweint. Doch als er die Bilder der Zerstörung in Ras Al-Satan sah, die eingestürzten Hütten, die zerbrochenen Teller, da begannen seine Schultern zu zittern. Zuerst weinte er im Wohnzimmer, dann dachte er, es ist nicht gut, dass Neta seinen Vater so sieht, und ging ins Schlafzimmer, und dort wurde das beherrschte Weinen zu einem Schluchzen, das seinen ganzen Körper schüttelte. Neta wollte ihm nachkommen, doch Roni hielt ihn auf. Papa möchte jetzt allein sein, erklärte sie ihm.
Danach, nachdem Neta eingeschlafen war, fragte sie ihn mit einer Sanftheit von früher: Was ist denn das gewesen?
Und er sagte, ich weiß nicht.
Hast du in dem Beitrag jemanden gesehen, den du kennst?
Nein.
Was dann?
Ich weiß nicht.
Vielleicht kommt da einfach eine Menge zusammen, weißt du, … die ganze Anspannung.
Vielleicht. Aber es ist auch –
Was?
Ich hatte einen Ort, Roni, verstehst du, einen Zufluchtsort. Ich bin schon Jahre nicht mehr dort gewesen, aber ich wusste, wenn ich sie bräuchte, dann wären die Berge da, und das Wasser.
Sie werden auch weiterhin dort sein, das weißt du.
Aber es ist nicht mehr dasselbe. Es genügt, dass so etwas einmal passiert, dann ist es vorbei, dann ist der Ort von Angst verseucht.
Hier muss ich noch einmal mit Neta hin, denkt er jetzt wieder. Wenn alles gut endet – er tut einen Schwur, wird einen Moment ernst –, dann fliege ich mit ihm in den nächsten großen Ferien ins unberührte Südamerika (Roni wird bestimmt zu beschäftigt sein, um mitzukommen. Dann werden wir nur zu zweit fahren, und damit werde ich Neta dafür entschädigen, dass ich ihn jetzt verlassen hab).
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