Neuland
die nach Ansicht der Psychologin »in Anbetracht des Alters des Jungen übertrieben« war und »absolut keine Grenzen kannte«.
Psychologen sind dann am schlimmsten, wenn sie Recht haben. Neta war tatsächlich nicht auf der anderen Seite einer wie auch immer gearteten Grenze. Er war in ihm, schlug in ihm wie ein weiteres Herz. Freunde hatten ihn vor der Geburt gewarnt, die Beziehung zu einem Kind sei nicht sofort da. Ich habe ein Jahr gebraucht, bis ich etwas für meinen Sohn empfand, hatte einer von ihnen mit merkwürdigem Stolz verkündet. Dori hatte weniger als eine Stunde dafür gebraucht. Gut, er hatte sich dieses Kind nächtelang erträumt. Auf wundersame Weise war in ihm das Vatergefühl lange vor dem Paargefühl gereift. Jahre bevor Roni in seine Einsamkeit vorstieß, hatte er sich vorgestellt, mit seinem zukünftigen Kind einen Hang runterzurollen, mit ihm im Hof Basketball zu spielen oder ihm König Matti der Erste vorzulesen. Nicht vorgestellt hatte er sich, dass sein Sohn ein so hübscher Junge sein würde. Schöner als sie beide, dunkeläugig mit hellem Haar und heller Haut.
Nimm ihn, mein Geliebter, mit diesen Worten hatte Roni ihn ihm gereicht, nachdem sie ihn lange auf der Brust gehalten hatte, er ist auch deiner. Nie zuvor hatte sie ihn »mein Geliebter« genannt. Nicht vorher und auch nachher nicht. Wie das Wort »Insel«, das in der hebräischen Bibel nur ein Mal vorkommt. Und er hatte gezögert, hatte Angst gehabt, Neta könnte ihm entgleiten, könnte zwischen seinen Händen wie ein Delphin aus einem Wasserbeckenemporschießen. Mach mal, es wird dir gefallen, hatte Roni ihn ermutigt, und auf ihrem Gesicht lag dieser besondere Glanz des »danach«.
Es gibt Mütter, die den Mann ausschließen und das Kind ganz für sich behalten. Roni war da sehr großzügig, schon in den ersten Tagen. Und überhaupt, nach fünf Monaten kehrte sie in ihre leitende Stellung im Unternehmen zurück und ließ Neta bei ihm. Das hatte sie von Anfang an so geplant, natürlich. Sie war so schwanger geworden, dass sie fünf Monate nach der Geburt zur Arbeit zurückkehren konnte, wenn Doris Schulferien begannen. Und so geschah es dann auch. Er und der Junge schlossen einen sanften Morgenbund . Auf dem Teppich lernten sie einander kennen, machten einen kurzen Spaziergang mit dem Wagen im Park der Mütter, kehrten zurück und hörten King Crimson und Genesis (das Kind liebt gute Musik! Nicht diesen ganzen Dreck für Kinder, erzählte er Roni stolz). Und sie ruhten einer in den Armen des anderen, während er langsam und faul »Wer nicht hüpft, ist gelb« brummte und sie beide damit in einen langen Nachmittagsschlaf wiegte, aus dem sie bereits in gespannter Erwartung erwachten – Neta weinte, und er verschlang Aprikosen –, wann endlich die Tür aufgehen und ihre Geliebte erscheinen würde.
Der Junge hängt wirklich sehr an Ihnen, Dori, aber ich habe den Eindruck, dass er auch eine gute Bindung an seine Mutter hat, hatte die Psychologin gesagt, als sie sich mit ihr wegen seiner Reise berieten. Das wird nicht einfach für Neta, zumal er es auch im Kindergarten gerade nicht leicht hat, aber er wird sich daran gewöhnen. Kinder besitzen eine natürliche Fähigkeit, sich zu gewöhnen. Was ich mich frage – fügte sie hinzu, und der Anflug eines Lächelns huschte über ihre Lippen –, ist, wie Sie das aushalten werden.
Roni hatte gelacht. Die verborgene Frauen-Solidarität, die vom ersten Treffen an im Raum gestanden hatte, manifestierte sich für ihn nun endgültig.
*
La puta que te parió , flucht Alfredo. Er meint, seine Sonnenbrille bei Jesús im Laden vergessen zu haben, und jetzt müssten sie umkehren.
Die Sonnenbrille ist in deiner Jackentasche, sagt Dori. Du hast sie eingesteckt, als es anfing zu regnen.
Alfredo greift in die Jackentasche und lacht. Wir sind ein gutes Team, eh , sagt er zu Dori und stößt ihn mit der Faust gegen die Schulter.
Nach einigen harmloseren Kurven offenbart sich vor ihren Augen das Städtchen Otavalo; es ruht in einem kleinen Tal wie ein Bällchen Flusen im Bauchnabel. Dori schaut auf die Uhr: Trotz allem werden sie ankommen, bevor der Markt beginnt.
Alfredo
Die ganze Zeit schaut er auf die Uhr, dieser Mister Dori. Dabei gibt es doch, wenn man sich das überlegt, nichts Überflüssigeres beim Fahren, als auf die Uhr zu schauen. Die Fahrt braucht die Zeit, die sie braucht. Aber diese Gringos glauben, die Zeit gehöre ihnen. Sie könnten über sie bestimmen. Schade. Bei uns verstehst
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