Neuland
Regens. Mit der Zeit lernt man abzuschätzen, ob es regnen wird, erklären ihm andere Traveller. Mit der Zeit lernt man auch, die verschiedenen Farben der Wolken zu unterscheiden.
Er sitzt mit den anderen Backpackern zusammen, unterhält sich mit ihnen, zieht die Fotos seines Vaters heraus, und immer keimtin den Sekunden, bis sie sie angeschaut haben, Hoffnung. Nein, sie haben ihn nicht gesehen, sagen sie am Schluss immer. Eine Droge, die einem hilft zu träumen? Sowas haben sie schon mal gehört. Man könne sie bekommen, wenn man noch weiter hineinführe, tiefer hinein in die Wildnis. Nein, sie haben es noch nicht versucht, vielleicht später mal. Einerseits lebt man nur einmal, andererseits hört man auch Geschichten von Leuten, die nicht mehr zurückgekommen sind. Die innerlich verletzt wurden. Es wäre schade, sich mit so einem Unsinn die ganze Reise kaputtzumachen. Außerdem, was ist denn schlecht an dem guten alten Marihuana? Willst du ein bisschen? Nein danke, sagt er, kommt sich vor wie ein Pensionär. Aber er bleibt bei ihnen sitzen, an den Holztischen, hört ihren Gesprächen zu, mischt sich nur selten ein. Er hat das Gefühl, dass er zu einer völlig anderen Generation gehört. Dass sich zwischen ihm und ihnen eine Kluft auftut, dass er zu viel weiß, und vielleicht, umgekehrt, auch zu wenig.
Die meisten von ihnen sind um die zwanzig, geplagt von Selbstzweifeln und voller Lebensfreude, ohne dass diese Tendenzen je miteinander kollidieren. Keiner lebt an dem Ort, an dem er zur Welt kam. Die Australier leben in London, die Engländer arbeiten in Spanien, die Spanier arbeiten in der Schweiz, die Franzosen in China oder Singapur. Und die Schweizer haben sich in Ecuador verliebt und prüfen bereits die Möglichkeiten, ein Stück Land in der Nähe von Quito zu kaufen und dort eine ökologische Farm aufzubauen. Israelis – gibt es nicht viele. Diese Gegend hier liegt nicht an der Humus-Straße, erklärte ihm ein Meron aus Kfar Saba. Die Humus-Straße ? Na, das kannst du dir doch denken. Israelis ziehen in Gruppen von einem Ort zum anderen, auf einer festen Route, die auf mündlichen Empfehlungen beruht. Und die Gegend der Farmen liegt eben nicht auf dieser Route. Warum nicht? Das ist nicht klar. Vielleicht, weil hier nicht genug los ist?
Die Australier (die in London leben) lachen viel. Dori versteht ihre Witze nicht immer, aber er fühlt sich wohl mit diesen Leuten, die trinken, lustig sind und eine gewagte Variante von »Reise nachJerusalem« spielen, bei der die Mädchen sich auf die Jungs setzen dürfen, wenn es keinen freien Stuhl gibt.
Es ist ihm auch angenehm, irgendwann in der Nacht in seine Hütte zu gehen. Noch immer kann er nicht einschlafen, doch die Angst vor dem Fall, die ihn in Otavalo gepackt hatte, überkommt ihn nicht mehr. Als habe er sie einmal bis zum Schluss durchmachen müssen, bis sein Herzschlag raste, um sie dann hinter sich lassen zu können und mit offenen Augen bis zum Morgen dazuliegen und einfach zu lauschen, wie die Wolken ziehen. Alfredo kehrt abends in seinen Caravan zurück, in der Regel in Begleitung einer der Touristinnen, und Dori bleibt auf der Farm, in Begleitung seiner Gedanken, die sich langsam befreien und immer befremdlicher werden: Ich könnte mich hier sogar wohlfühlen, wenn nicht … Wenn was nicht? Gib doch zu, dass du dich wohlfühlst. Ich fühle mich wohl, schon, aber dann erinnere ich mich, warum ich hier bin. Und wen ich dort zurückgelassen habe. Heiß ist es hier. Regnerisch und heiß. Regnerisch, heiß und Sterne. Und was, wenn … und was, wenn dir zum Schluss gar nichts mehr bleibt, weder hier noch dort? Wenn du mit leeren Händen oder überhaupt nicht mehr zurückkommst? Die Maschen dieses Moskitonetzes sind zu groß, oder haben sich die Mücken bereits verkleinert? Wie sonst ist es möglich, dass sie mich gestochen haben? Vielleicht hat auch Vater hier geschlafen? Unter diesem Moskitonetz? Ich habe meine Füße in seine Schuhe gesteckt und bin mit ihnen durchs Wohnzimmer gelaufen. Und Ze’ela hat Mutters Schuhe genommen, als wir noch klein waren, wenn sie uns allein zu Hause gelassen haben. Ab welchem Alter haben sie uns alleine gelassen? Ze’ela war zehn. Ich war sieben. Für Eltern sind sie relativ häufig ausgegangen. Sie hatten ihr eigenes Leben. Roni und ich gehen kaum aus. Fast nie, und es liegt nicht an ihr, es liegt an mir. Ich kann Neta nicht bei einem Babysitter lassen, das heißt, ich kann schon, aber ich kann es nicht wirklich
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