Neuland
Neigung dazu.
Wenn es ein Wort gibt, das Dori hasst, dann ist es das Wort »naiv«. Seit Roni zur Leiterin aufgestiegen ist, hält sie alle für naiv, und besonders ihn, in seiner »Luftblase«, die er sich da in der Schule schaffe, wo man versuche, Werte wie gegenseitige Achtung, Höflichkeit, Zuhören und überzogene Ernsthaftigkeit zu kultivieren. Das ist keine Naivität, hält er ihr immer entgegen, naiv ist einer, der nichts von der Wirklichkeit mitkriegt. Ich dagegen weiß genau, was da draußen passiert, und versuche meinen Schülern zu zeigen, dass es auch anders geht.
Kann ich mit Neta reden?, fragt er, wechselt das Thema, um der Gefahr eines Streites zu entgehen, die seit dem Moment, in dem sie das Wort »naiv« fallen ließ, über ihrem Gespräch schwebt.
Er ist bei meiner Mutter. Im Kibbuz?
Ja. Ich habe am Donnerstag eine große Präsentation, deshalb habe ich sie gebeten, ihn für ein paar Tage zu nehmen.
Wie dumm von mir, denkt sich Dori, wie naiv von mir zu denken, sie würde meine Reise dazu nutzen, etwas mehr mit Neta zusammen zu sein. Und wie geht es ihm nachts? Wacht er viel auf?
Plötzlich bricht das Gespräch ab, das Besetztzeichen klopft an seinem Ohr.
Er versucht noch einmal anzurufen, erfolglos, wartet ein paar Minuten auf der Straße, vielleicht ruft sie ihn ja zurück.
Das geschieht nicht – und er geht zurück in sein Zimmer. Davor steht sein verlorener Koffer. Nach weniger als achtundvierzig Stunden, wie Alfredo es versprochen hat. Vielleicht könnte er sich wirklich ein bisschen mehr auf ihn verlassen.
*
Es dauert eine Weile, bis er die Kleider aus dem Koffer in die mochila umgepackt hat, dann legt er sich aufs Bett, stopft sich auch das zweite, verwaiste Kissen unter den Kopf, schließt die Augen, schlägt sie auf und schaut zum Ventilator an der Decke, der sich immerzu dreht, schließt wieder die Augen, versucht zu schlafen. Und abermals, wie in der ersten Nacht, kann er nicht einschlafen, obwohl er furchtbar müde ist.
Nach und nach ergreift ihn ein leiser Schrecken.
Schon lang hat er diesen Schrecken nicht mehr gespürt, er ähnelt ein bisschen dem Schwindelgefühl vor einem Sprung in die Tiefe, wie eine Angst zu fallen, in der auch die Lust sich fallen zu lassen, mitschwingt. Das erste Mal hatte er sich so gefühlt, als er als Kind auf dem Busbahnhof in Tel Aviv seine Familie verlor. Das Gefühl kehrte bei Schulausflügen wieder, dann in den zu langen Nächten im Libanon mit dem Fernglas und bei seinem Versuch, sich von Roni zu trennen. Es ist schwer, den Finger daraufzulegen, aber in einem bestimmten Moment schlägt die Einsamkeit in Angst um. Seit Netas Geburt näherte er sich diesen Gefilden seiner Seele nicht mehr, er hatte einfach keine Zeit dazu, und siehe da, während er den sich drehenden Ventilator an der Decke betrachtet, spürt er, wie dieser Schrecken zurückkommt, stärker wird und versucht, ihn zu überzeugen: Du bist jetzt völlig ungeschützt, Dori, nackt und bloß, ausgeliefert; dieser Ventilator kann sich von seiner Achse lösen und sich in dein Herz bohren, dein Vater kann seinen Tod finden, noch bevor du ihn findest.
Er schaltet den Fernseher an. Vielleicht wird das Zappen seinen schnellen Herzschlag beruhigen. Es ist kein gutes Zeichen, wennman seinen eigenen Herzschlag hören kann. Fluten in Bangladesch. Völkermord in Somalia. Sexskandale in England. Was hilft besser als die Sorgen anderer, um sich zu betäuben.
Auf einem der lokalen Kanäle läuft ein Bericht über einen Schamanen, der anscheinend gerufen wird, um in den Sportstadien, in denen die Auswahlmannschaft von Ecuador bei der kommenden Weltmeisterschaft spielen soll, bestimmte Rituale abzuhalten. Dori versteht nicht, was der Sprecher sagt, doch die Bilder wirken merkwürdig beruhigend auf ihn und sein pochendes Herz: Ein Schamane, erstaunlicherweise trägt er Jeans, ein weißes T-Shirt und eine Indianerweste, steht in dem Kreis in der Mitte der Allianz-Arena in München, streut Weihrauch, den man fast durch den Bildschirm riechen kann, murmelt ein Gebet, raschelt mit Blättern und Federn und spreizt dann die Hände wie einen Fächer, um den Rasen zu segnen.
Als die Werbung beginnt, sucht er im Register von Lonely Planet nach »Schamane« und »Schamanismus«. Er erwartet viele Verweise, doch zu seiner großen Überraschung gibt es keinen einzigen.
Alfredo
Was genau ist ein Schamane?, fragt Mister Dori, als wir die Reise beginnen.
Ich schweige. Erklär einem Alpaka, was ein Delphin
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