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Neumond: Kriminalroman (German Edition)

Neumond: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Neumond: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Larcher
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über eine Baumwurzel schüttelte ihn durch. Wahrscheinlich war Bertoni längst buchstäblich über alle Berge und nicht mehr einzuholen. Die Verfolgung schien ein aussichtloses Unterfangen zu sein. Tief im Wald drosselte er die Geschwindigkeit und überlegte, wo er wohl am besten wenden konnte, als er Motorengeräusche vernahm. Bertoni musste also noch in der Nähe sein.
    Er biss die Zähne zusammen, beschleunigte wieder, und schon bald tauchte vor ihm das knallige Rot von Bertonis Schneemobil in der zugeschneiten Umgebung auf.
    Morell warf alle Unsicherheiten über Bord und drückte das Gas bis zum Anschlag durch. »Bleiben Sie endlich stehen!«, rief er, doch seine Worte wurden vom Fahrtwind verschluckt. Er heftete sich an die Fersen des Arztes und stellte bald verwundert fest, dass die Bäume sich lichteten und der Wind stärker wurde. Es dauerte einige Augenblicke, bis er realisierte, dass sie direkt auf die ungesicherte Schlucht zufuhren.
    Bertoni machte einen scharfen Schwenk nach rechts, und Morell, der nicht darauf gefasst gewesen war, raste beinahe geradeaus in die Tiefe. Erschrocken riss er den Lenker herum und schrammte an der Kante vorbei. Sein Herz schlug bis zum Hals, und sein Körper pumpte literweise Adrenalin durch seine Adern. Starr vor lauter Schreck fuhr er hinter Bertoni her. Rechts von ihm ragten uralte Tannen in den grauen Himmel, während es auf der anderen Seite dicht neben ihm viele Meter in die Tiefe ging.
    Auf einmal wurde Bertoni langsamer. Sein Schlitten geriet ins Stocken, und Morell konnte immer mehr Distanz gutmachen, bis ihn nur noch wenige Meter von dem Flüchtenden trennten. Er sah, wie Bertoni auf den Lenker schlug und sich mehrmals zu ihm umdrehte. Schließlich kam der Arzt vollends zum Stehen und stieg ab.
    »Erst tanken, dann flüchten«, rief Morell und schaute auf seine eigene Tankanzeige: Er hatte zwar nicht mehr viel Treibstoff, aber immerhin hatte er noch welchen. Er fuhr vorsichtig näher an den Arzt heran.
    Bertoni, der nun gar nicht mehr aussah wie ein eleganter Halbgott in Weiß, schaute sich hektisch um. Sein Haar war zerzaust, sein Gesicht gerötet und die sonst so aristokratische Körperhaltung war der eines gehetzten Tieres gewichen.
    »Geben Sie auf. Das hat doch keinen Sinn«, redete Morell auf ihn ein. »Sie können doch nirgendwo hin. Sie haben kein Geld dabei und auch keinen Ausweis. Sie haben nicht einmal Winterklamotten an.«
    Bertoni überlegte kurz. »Ich wollte das alles gar nicht«, sagte er und schaute seitwärts, wo es ungefähr dreißig Meter senkrecht bergab ging. »Es war alles ihre Schuld.«
    »Das soll dann das Gericht entscheiden. Kommen Sie jetzt. Seien Sie vernünftig, und begleiten Sie mich auf die Wache.«
    Bertoni schüttelte den Kopf. »Ich im Gefängnis? Was soll denn dort aus mir werden? Das stehe ich keine Woche durch.« Er trat einen Schritt zur Seite. Dabei brachen Schnee, Erde und ein paar kleine Steinchen von der Kante und fielen mit einem rasselnden Geräusch in die Schlucht.
    Morell stieg vom Schneemobil ab und hob beschwichtigend die Hände in die Höhe. »Jetzt machen Sie mir hier aber keinen Blödsinn. Nur keine Kurzschlusshandlungen. Sie werden sich einen guten Anwalt nehmen, und wenn sie tatsächlich Mitschuld getragen hat, dann kommen Sie in ein paar Jahren auf Bewährung wieder raus.«
    »Mein Leben ist trotzdem ruiniert, und die Schuldgefühle werde ich für immer mit mir herumtragen müssen.« Der Doktor blickte noch einmal zur Seite und sah in den Abgrund. »Ich kann das nicht.«
    Morell atmete auf. Er hatte schon Angst gehabt, Bertoni in die Schlucht stürzen zu sehen. »Gut«, sagte er. »Das ist sehr vernünftig von Ihnen. Kommen Sie.« Er streckte dem Arzt seine Hand hin, doch dieser schüttelte erneut den Kopf und sah Morell mit einer Mischung aus Trauer, Resignation und Leere an.
    »Sie haben mich falsch verstanden«, sagte er. »Ich kann nicht ins Gefängnis, und ich kann nicht mit der Schuld leben. Sagen Sie allen, dass ich es aus tiefstem Herzen bereue.« Er stand nun mit dem Rücken zum Abgrund und streckte seine Arme seitlich aus. Dann schloss er die Augen und ließ sich langsam zurückfallen.

61
    Als Morell zurück zum Sanatorium kam, ließ er das Schneemobil einfach auf dem Parkplatz stehen und ging zum Eingang. Langsam legte sich die Anspannung, aber er fühlte sich hundsmiserabel. Sein Körper schmerzte, er war bis auf die Knochen durchgefroren, und an die Schrammen an seiner Seele wollte er gar nicht

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