Neumond: Kriminalroman (German Edition)
noch einmal einen Blick zur Tür. Oliver laberte wohl gerade einem armen Menschen in Innsbruck ein Ohr ab und würde vor lauter Reden noch seine erste Verhaftung verpassen. »Also noch einmal von vorn. Stefano Bertoni, Sie sind vorläufig festgenommen. Alles, was Sie sagen, kann und wird …«
Er kam auch beim zweiten Anlauf nicht weiter, da Bertoni einen Satz machte, sich die umgekippte Kaffeetasse griff und sie ihm entgegenschleuderte.
Morell wich der Tasse aus, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel auf den Boden. Glücklicherweise wurde sein Aufprall von dem dicken Teppich abgefedert. » OLIVER !«, schrie er.
Während Morell noch am Boden lag, schwang Bertoni sich über den Schreibtisch und raste zur Tür. »Es war alles ihre Schuld«, rief er und bog auf den Flur. »Sie war an allem Schuld!«
»Das bringt doch nichts. Seien Sie doch vernünftig.« Morell rappelte sich auf und lief ihm hinterher. Er wankte auf den Flur und rannte beinahe Oliver über den Haufen, der ihn völlig überrumpelt, das Telefon noch immer am Ohr, mit offenem Mund anstarrte.
»Tut mir leid, ich muss aufhören … Notfall …«, stammelte er und legte auf. »Er ist hinunter gelaufen. Über die Stiege.« Er zeigte so aufgeregt in die Richtung, dass sein ganzer Körper bebte. »Schnell. Fangen wir ihn.«
Morell bezweifelte zwar sehr, dass er es mit dem sportlichen Arzt aufnehmen konnte, aber versuchen musste er es. Und sicherlich war Oliver schneller als er. Er rannte den Gang entlang, die Stiege hinunter ins Erdgeschoss und hörte plötzlich einen lauten Aufschrei hinter sich, gefolgt von einem dumpfen Poltern.
»Aaahhh! Aua.« Oliver war vor lauter Hektik über seine eigenen Füße gestolpert.
»Alles okay bei dir?« Morell lief zurück und beugte sich zu ihm hinunter.
»Jaja.« Oliver hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Knie. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Schnappen Sie sich lieber den Mistkerl. Lassen Sie ihn nicht entkommen.«
Morell drehte sich um und sah gerade noch, wie Bertoni nach draußen auf den Parkplatz rannte. »Haltet ihn auf!«, schrie er, doch Schwester Helen und ein anwesender Pfleger schenkten ihm nur verdutzte Blicke.
»Herr Doktor. Soll ich den dicken Polizisten …«, rief Schwester Helen, doch mehr hörte Morell nicht mehr, da sich die automatische Schiebetür hinter ihm schloss.
Es hatte wieder begonnen zu schneien. Die Autodächer waren mit einer dünnen weißen Schicht bedeckt, und an einigen Stoßstangen hatten sich kleine Eiszapfen gebildet. Für all das hatte Morell kein Auge. Alles, was ihn interessierte, war Bertoni, der neben einem dunkelblauen Audi stand und seine Taschen abklopfte.
»Wohl den Autoschlüssel im Büro gelassen.«
Bertoni sah sich hektisch um.
»Geben Sie auf! Das bringt doch alles nichts.« Morell machte einen Schritt auf ihn zu, doch Bertoni rannte zurück in Richtung Sanatorium und bog um die Ecke. Morell nahm wieder die Verfolgung auf. Bereits nach wenigen Metern fing er an, auf seine Kondition zu fluchen. Er hatte furchtbares Seitenstechen, die kalte Winterluft stach in seinen Lungen, und in seinem Kopf hämmerte es. Er bekam gerade noch mit, wie Bertoni in die Garage schlüpfte. Wenige Augenblicke später waren Motorengeräusche zu hören, und gerade als Morell die Tür erreichte, schoss eines der Schneemobile heraus und fuhr ihn um ein Haar über den Haufen.
»Stehen bleiben!«, schrie Morell ihm vergeblich nach. »Mir bleibt aber auch nichts erspart«, keuchte er und rannte in die Garage. Dort holte er den Schlüssel aus dem kleinen Kästchen und schwang sich auf das zweite Schneemobil. Er war schon Jahre her, dass er das letzte Mal mit so einem Gerät gefahren war. Wie war das noch mal gleich mit dem Starten? Er versuchte, an den Griffen zu drehen, um wie bei einem Motorrad Gas zu geben, doch nichts tat sich. Es gab auch nirgends ein Pedal, wie in einem Auto.
›Daumengas‹, flüsterte eine kleine Stimme aus den hintersten Windungen seines Gehirns. Er drückte auf den kleinen Hebel, der sich am rechten Griff befand und schoss so plötzlich nach vorn, dass er beinahe vom Schneemobil gefallen wäre. »Kruzifix«, fluchte er, beschleunigte vorsichtig und fuhr aus der Garage.
Bertonis Schneemobil hatte eine klare Spur hinterlassen, und Morell folgte ihr über einen unebenen Pfad, direkt in den Wald hinein. Der bitterkalte Fahrtwind peitschte ihm Eiskristalle ins Gesicht, seine Ohren schmerzten. Ein Ast streifte ihn hart an der Wange, ein Sprung
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