Neumond: Kriminalroman (German Edition)
erst denken – immerhin hatte er mitansehen müssen, wie ein Mann sich in den Tod gestürzt hatte.
Er würde jetzt nach Oliver schauen und sich dann kurz hinlegen. Irgendwo gab es sicher ein freies Bett, das er benutzen konnte.
Kurz vor der Eingangstür stieg ihm der Geruch von Zigarettenrauch in die Nase. Er schielte um die Ecke und sah Lechner und Gruber in trauter Eintracht gemeinsam rauchen. »Na, da haben sich ja zwei gefunden«, murmelte er und betrat die Eingangshalle.
Am Empfang hatte sich eine Menschentraube gebildet, die aufgeregt herumdiskutierte: Isabella Salm stand da, Frau Hanauer, Schwester Elvira, ein paar andere Schwestern, die Morell nicht kannte, und mittendrin Schwester Helen. Als er das Sanatorium betrat, verstummten alle.
»Wo ist er?«, rief Schwester Helen. »Wo ist der Herr Doktor? Was haben Sie mit ihm gemacht?«
Er starrte in zahlreiche Augenpaare, die ihn fragend anschauten. »Ähm …« Er wollte nicht lügen, hatte aber auch kein Bedürfnis, die schreckliche Nachricht zu überbringen. »Der ist weg«, sagte er einfach.
»O mein Gott! Da ist Blut.« Helen zeigte auf Morells Gesicht. »Ist das etwa seines?« Ihre Stimme wurde eine Oktave höher, und sie schlug die Hände vor den Mund.
Morell fasste sich an die Wange und ertastete verkrustetes Blut. »Nein, das ist meines. Ein Ast hat mich gestreift, aber mir geht es gut. Danke der Nachfrage.«
»Wo ist der Herr Doktor denn jetzt?« Schwester Helen hatte Tränen in den Augen.
»Geflohen.« Morell, der merkte, dass seine Nerven langsam einen Generalstreik antraten, wendete sich ab und ging zum Aufzug.
»Ich komme mit Ihnen.« Schwester Elvira hatte ihn am Arm gefasst. »Sie sehen so aus, als müssten Sie verarztet werden.«
»War er es wirklich?«, fragte sie, während sie ihn in einen leeren Behandlungsraum führte, ihn auf einen Stuhl setzte und die Schramme in seinem Gesicht desinfizierte.
Er nickte. »Autsch!«
»Stillhalten.« Sie trug eine Salbe auf und klebte ihm anschließend ein Pflaster auf die Wange. »Wissen Sie, warum er es getan hat?«
»Gekränkter Stolz. Sie hat ihn abgewiesen, und dadurch hat er sich gedemütigt gefühlt. Sehen Sie, manchmal ist es ganz schön gefährlich, jung, schlank und attraktiv zu sein.«
»Tja«, sie musterte sein lädiertes Gesicht und zwinkerte ihm zu. »Dann sind Sie derzeit wohl absolut in Sicherheit.«
»Sehr witzig.« Morell schluckte brav die Tabletten, die sie ihm gab und ließ sich anschließend von ihr auf eine Liege bugsieren.
»Sie sollten sich ausruhen.« Sie holte eine hellblaue Wolldecke aus einem Schrank, faltete sie auseinander und deckte ihn zu.
»Was ist mit meinem Kollegen? Geht es ihm gut?«
»Aber ja. Der Kleine hat nur ein verstauchtes Knie. Ich habe ihn verarztet und ihm eine Schmerztablette gegeben. Er wartet im Nebenzimmer auf Sie.« Sie hob den Zeigefinger in die Höhe. »Ich lasse ihn kurz zu Ihnen, aber Sie sind ziemlich ramponiert, also übernehmen Sie sich nicht.« Mit diesen Worten schloss sie die Tür hinter sich und ließ Morell allein.
»Ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Oliver kam in das Zimmer gehumpelt. »Was ist mit Bertoni? Was ist mit Ihrem Gesicht? Was ist passiert?« Seine Worte waren wie eine Maschinengewehrsalve. Laut, schnell und schmerzhaft. Eines Tages würde der Junge tatsächlich jemanden zu Tode reden.
Morell legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Pssst. Nicht so laut und nicht so schnell«, bat er und fing an zu erzählen.
»Das ist bitter«, sagte Oliver, nachdem Morell geendet hatte. »Ich habe die ganze Action versäumt. Nur weil ich so tollpatschig bin. Naja, mach ich mich halt jetzt nützlich. Ich werde gleich die Bergrettung und die Spurensicherung anrufen und dann seine Wohnung durchsuchen. Da wir jetzt ja keine Aussage von ihm kriegen, brauchen wir dringend noch ein paar Indizien, um den Fall klar abzuschließen.«
»Du solltest dich erholen. Du bist immerhin schwer gestürzt.« Morell zeigte auf Olivers Bein.
»Schon O.K. Es ist ja nichts gebrochen. Ich rufe Sie an, sobald es was Neues gibt.« Er schloss die Tür hinter sich.
Morell ließ sich mit einem lauten Seufzer zurück auf die Liege fallen, zog sich die Decke bis zur Nase und schloss die Augen. Die Wirkung der Tabletten setzte bald ein, und der stechende Schmerz in seinem Kopf wurde von einem dumpfen Pochen ersetzt und löste sich schließlich in schummriger Benebelung auf. Wenige Momente später fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Als
Weitere Kostenlose Bücher