Neumond: Kriminalroman (German Edition)
versuchte, den Verfolger nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn das nicht Steinbichler war, wer war es dann? Und was tat derjenige hier? Warum verfolgte er sie? Die Antworten, die ihr spontan durch den Kopf schossen, waren allesamt nicht gerade angenehm. Also fing sie an zu rennen. Doch da sie den unheimlichen Verfolger dabei nicht aus den Augen ließ, stolperte sie auf dem unwegsamen Pfad über einen Ast. Sie schlug der Länge nach auf, und um sie herum wurde es dunkel.
Als sie wieder zu sich kam, spürte sie einen pochenden Schmerz in ihrem Kopf. Sie ignorierte ihn so gut es ging, rappelte sich auf und sah sich um. Erst als sie sicher war, allein zu sein, tastete sie ihre Stirn ab, an der sich bereits eine deutliche Beule gebildet hatte. Sie war mit dem Kopf auf eine dicke Wurzel geknallt – kein Wunder, dass es ihr kurzfristig alle Lichter gelöscht hatte.
Sie sah sich erneut um, doch von dem Angreifer war weit und breit nichts zu sehen. Hatte sie sich womöglich alles nur eingebildet? Oder hatte es sich bei dem Mann vielleicht nur um einen einfachen Wanderer oder Skitourengeher gehandelt? Während sie darüber nachdachte, machte sie sich daran, Schnee von ihrer Jacke zu klopfen. Dabei hielt sie plötzlich inne und fasste an die Tasche, in die sie zuvor die Plastiktüte mit den Handknochen und dem Ring gesteckt hatte – nichts zu fühlen. Sie zog den Reißverschluss auf und griff hinein. Nichts. Die Fundstücke waren verschwunden. Sie prüfte schnell alle anderen Taschen und suchte die Stelle ab, an der sie gestürzt war, um sicherzugehen, dass ihr beim Hinfallen nichts aus der Tasche gerutscht war – aber ohne Erfolg. Von den Knochen und dem Ring war nirgendwo etwas zu sehen.
Der Kerl war also doch real gewesen. Er musste die Knochen gestohlen haben, als sie noch bewusstlos gewesen war. Sie fühlte wie eine Mischung aus Zorn und Ekel in ihr hochstieg – dieser Typ hatte einfach in ihrer Kleidung herumgewühlt. Sie sah sich um und versuchte, irgendeinen Hinweis auf die Identität des Angreifers zu finden – Fehlanzeige. Es gab zwar ein paar Fußspuren im Schnee, aber die waren viel zu undeutlich, und auch sonst war nichts Brauchbares zu finden.
Sie schlang die Arme um ihren Körper und fröstelte. Seit sie vor Jahren auf einer Studentenparty von einem Betrunkenen fast vergewaltigt worden wäre, reagierte sie auf männliche Übergriffe doppelt aggressiv. »Na warte, das wirst du noch bereuen«, murmelte sie. Sie ballte die Hände zu Fäusten, marschierte schnurstracks zurück ins Dorf und stürmte in die Polizeiinspektion.
16
Leander schloss die Tür hinter sich und fasste sich an den Kopf. Im Schwindeln war er auch schon mal besser gewesen. Wenn das bloß keinen Ärger gab …
Er hastete zu seinem Auto und fuhr eilig in Richtung Dorfzentrum. Skiverleih, Supermarkt, Gastwirtschaft … checkte er die Geschäfte am Straßenrand. Dabei war er so in Gedanken versunken, dass er kurz nicht auf den Verkehr achtete und beinahe ein altes Ehepaar samt Rauhaardackel über den Haufen gefahren hätte. »Tschuldigung«, rief er den beiden zu und bog auf den Parkplatz eines kleinen Einkaufszentrums ein.
Übermorgen hatte Nina Geburtstag, und er brauchte unbedingt ein Geschenk für sie. Natürlich hatte er sich bereits in Wien Gedanken gemacht und auch einen flauschigen, rosaroten Bademantel für sie besorgt. Je mehr er aber in den letzten Tagen darüber nachgedacht hatte, desto weniger war er von dem Geschenk überzeugt. Das Ding war natürlich bequem und kuschelig, aber gleichzeitig auch total unsexy. Sowas schenkte man seiner Mutter oder Schwester, aber doch nicht seiner Freundin. Trotzdem hatte er seinen Koffer vorsichtshalber abgeschlossen.
Er parkte und betrachtete das Einkaufszentrum. Groß war der Laden ja nicht, fiel ihm auf. Da gab es in Wien H & M Filialen, die größer waren. »Qualität statt Quantität«, hoffte er, stieg aus und lief auf die Eingangstür zu.
Drinnen wurde er von einem Schwall warmer Luft und typischer Kaufhausmusik in Empfang genommen. Ja, das fühlte sich richtig an. Hier würde er sicher etwas Tolles finden. Er hatte zwar noch keine Ahnung, was es sein sollte, aber er würde sich einfach inspirieren lassen.
Voller Zuversicht schlenderte er zwischen den weihnachtlich dekorierten Geschäften hindurch: Parfum? Zu unpersönlich. Ein Buch? Zu einfallslos. Schmuck? Nicht wirklich Ninas Ding. Einen iPod? Hatte sie schon. Lippenstift? Trug sie nicht. Ein Waffeleisen? Noch schlimmer
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