Neumond: Kriminalroman (German Edition)
Spaziergang zum Bunker gestaltete sich allerdings nicht ganz so idyllisch, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, denn der Wald veränderte allmählich sein Erscheinungsbild: Die Baumkronen ließen immer weniger Sonnenstrahlen durch, was zu einem diffusen Wechsel von Licht und Schatten führte, die Äste und Steine, die auf dem Weg lagen, waren durch eine einheitliche Schneehaube zu perfekten Stolperfallen geworden, und zudem verklangen nach und nach alle Geräusche: Kein Schnee, der von den Bäumen fiel, kein Rascheln von kleinen Tieren auf der Suche nach Nahrung, ja nicht einmal das Flügelschlagen einiger verirrter Vögel war mehr zu hören. Das Winterwunderland mutierte langsam aber sicher zum Schauplatz eines unheimlichen Grimm-Märchens.
Nina hielt den Atem an und lauschte in die Stille. Nichts. Ihr ganzer Körper von den Zehenspitzen bis zum Haaransatz überzog sich mit einer Gänsehaut, und sie schlang die Arme um sich, als könnte diese Geste die Schauer vertreiben, die ihr über den Rücken rannen. Als plötzlich dicht hinter ihr etwas knackte, blieb ihr beinahe das Herz stehen. Sie schnellte herum, kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. »Hallo?!« Nichts war zu hören, außer ihrer eigenen Stimme, die sich im zugeschneiten Dickicht verlor. »Hallo?!«, versuchte sie es erneut. Sie erhielt wieder keine Antwort, aber der Klang ihrer Stimme beruhigte sie etwas. »Words like violence, break the silence …«, stimmte sie den alten Hit von Depeche Mode an und ging leise singend weiter. Gerade als sie über ihre eigene Aufregung lachen wollte, durchbrach schon wieder ein Geräusch die Stille. ›Die Toten können oft nicht ruhen und spuken daher herum‹, fielen ihr spontan die Worte ihrer Großmutter ein. »Die Toten können mir wurscht sein«, redete sie sich selbst gut zu. »Ich bin Gerichtsmedizinerin und somit die Herrin der Toten. Die tun keinem was zuleide. Gefährlich sind nur die Lebenden.«
»Das würde ich so nicht unterschreiben«, sagte eine Stimme direkt hinter ihr.
Nina schnellte herum, hob die Hände zu Fäusten geballt vor sich und starrte direkt auf eine kleine, dürre Frau, deren knochiges Gesicht von einem dicken roten Wollschal umfasst wurde, aus dem einige wilde graue Strähnen hervorlugten. »Sind Sie wahnsinnig?«, rief sie, als sie die Sprache wieder gefunden hatte. »Sie haben mich fast zu Tode erschreckt.«
»Tut mir leid.« Die Miene der alten Frau blieb völlig regungslos, so dass Nina ihr das Gesagte nicht abnahm.
»Schleichen Sie sich immer heimlich, still und leise an nichtsahnende Spaziergänger heran und bescheren ihnen fast einen Herzinfarkt?«
Die unbekannte Frau ging nicht auf ihre Frage ein. »In diesem Teil des Waldes treiben böse Geister ihr Unwesen«, sagte sie. »Sie sollten hier nicht alleine herumlaufen.«
Die Alte war definitiv nicht ganz dicht. »Sie rennen ja auch allein hier draußen herum«, konterte Nina.
»Aber ich kenne mich im Gegensatz zu Ihnen mit dem Wald und seinen Bewohnern aus. Darum bin ich Ihnen auch gefolgt – um sicherzugehen, dass Ihnen nichts passiert.«
»Ich kann schon gut auf mich selbst aufpassen.« Nina, die keine Lust auf Gruselgeschichten hatte, drehte sich um und stapfte weiter den Weg entlang.
»Im Mittelalter war hier ein Richtplatz. Viele Unschuldige sind damals dem Henker zum Opfer gefallen. Ihre Seelen finden bis heute keine Ruhe«, ließ die Alte nicht locker.
»Momentan sind Sie die Einzige, die an diesem Ort herumgeistert und keine Ruhe gibt.« Nina beschleunigte ihre Schritte, doch die Frau ließ sich nicht so leicht abwimmeln.
»Sie müssen aufpassen!«, rief sie, während sie ihr eifrig hinterherstiefelte. »Und passen Sie auch auf einen nahestehenden Menschen auf. Da ist etwas im Busch.«
Damit hatte sie ins Schwarze getroffen. Nina bremste ab und drehte sich um. »Was ist im Busch?«
Die Alte schloss ihre Augen und legte den rechten Zeigefinger auf die Stelle zwischen ihren Brauen. »Ich sehe einen dunklen Schatten, der über einem Ihrer Lieben hängt.«
»Was für ein Schatten?«
Die Frau kramte in einem ihrer wollenen Röcke, von denen sie offensichtlich mehrere übereinander trug, und Nina erwartete, dass sie gleich Hühnerknochen, Tarotkarten oder etwas Ähnliches daraus hervorzaubern würde. Doch sie hatte sich getäuscht: Die Alte zog einen Stift und ein Stück Papier hervor und kritzelte eine Adresse darauf.
»Kommen Sie doch einfach vorbei, dann finden wir es gemeinsam heraus. Mein
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