Neumond: Kriminalroman (German Edition)
nicht vorstellen, wie schön das morgen wird!«, strahlte sie.
»Nein, das kann ich nicht«, sagte er. »Lass uns doch ans Buffet gehen.« Er musste sich dringend noch mehr Knautschzonen anfuttern, um den morgigen Skiausflug heil zu überstehen.
18
Obwohl er sich die halbe Nacht das Hirn zermarterte, fiel Morell keine brauchbare Ausrede ein, um sich vor dem Skifahren zu drücken. »Zumindest bin ich dir kein Fasten mehr schuldig«, sagte er zu Gott und zog die extrawarme Unterwäsche aus dem Koffer.
Die dicke Wäsche nutzte genau gar nichts gegen den beißenden Wind, der draußen auf der Piste blies. Bereits als er an der Bergstation aus dem Sessellift stieg, konnte er vor lauter Kälte weder Zehen noch Fingerspitzen fühlen. »Wartet doch auf mich!«, rief er gereizt, als die anderen sich mit einem ausgelassenen »Jippie!« den Hang hinunterstürzten. Er nestelte umständlich ein Taschentuch aus seiner Skijacke, putzte sich die laufende Nase und richtete seine Mütze. Als er damit fertig war, waren seine Freunde nur mehr ein paar bunte Punkte auf weißem Untergrund. »Vielen Dank auch!«, schimpfte er, begutachtete skeptisch den steilen Hang, rammte mit einem lauten Seufzen die Stöcke in den Schnee und glitt mit einem Stoßgebet auf den Lippen auf die Piste. Obwohl er nur mit geschätzten 0 , 5 km/h den Hang hinunterpflügte, dauerte es keine zwei Minuten, bis er das erste Mal auf seinem Hintern saß.
»Da sucht wohl einer nach Schneeblumen«, lachte ein braungebrannter Skilehrer, bremste ab, half ihm auf die Beine und wedelte anschließend mit gekonntem Hüftschwung weiter den steilen Berg hinunter.
»Schneeblumen!«, kicherte eine Horde Kinder in neonfarbenen Skianzügen und sauste munter ihrem Lehrer hinterher.
Morell klopfte sich wütend den Schnee von der Hose. Wenn das so weiterging, dann würde er noch Stunden brauchen, um zur Talstation zu gelangen.
Ein paar Stürze später kam er endlich am Fuß des Lifts an – Valerie, Nina und Leander saßen an der Schneebar und winkten ihm zu.
»Da bist du ja«, sagte Leander. »Wir waren schon kurz davor einen Suchtrupp loszuschicken.«
Morell ignorierte die Spitze und wollte sich gerade hinsetzen, um sich einen Tee und ein Stück Apfelstrudel zu bestellen, als die anderen aufsprangen.
»Weiter geht’s«, rief Leander und klatschte in die Hände. »Wir wollen ja nicht die ganze Zeit an der Bar hocken.« Er schnallte sich seine Skier an und ließ sich zur Einstiegsstelle des Lifts gleiten.
Morell übte sich in Resignation und folgte seinen Freunden mit stoischer Miene – Widerstand war ohnehin zwecklos, und Lamentieren würde ihm nur wertvolle Energie rauben. Er ignorierte also tapfer sämtliche Widrigkeiten, die sich ihm in Form von Pistenrowdies, Eisplatten und Graupelschauern in den Weg stellten, und quälte sich durch den Vormittag. Dabei dehnte sich jede einzelne Sekunde ins Unendliche, und er war so glücklich wie selten, als Valerie sich endlich seiner erbarmte und vorschlug, doch zum Mittagessen ins Gasthaus Hexenkessel einzukehren.
Während die Skipiste eine Gefährdung für Morells Leib und Leben darstellte, war der Hexenkessel eine Zumutung für sein psychisches Wohlbefinden: Bratengeruch, Alkohol und Schweiß hingen in der Luft und ließen ihn die Nase rümpfen. »Puh, das menschelt hier aber ordentlich«, stöhnte er, als er eine Horde semikomatöser Kampftrinker passierte, die Glühwein in sich hineinschütteten, als wäre es Limonade.
»Ich glaube, hier ist Selbstbedienung«, sagte Valerie, nachdem die Vier an einem der wenigen freien Tische im hinteren Bereich des Lokals platzgenommen hatten. Dabei musste sie fast schreien, da der Geräuschpegel enorm hoch war: Die Angetrunkenen an der Bar grölten und lachten, ohne sich zu genieren, müde Kinder quengelten lautstark, und als wäre das nicht genug, dröhnte auch noch Partymusik der schlimmsten Sorte aus den Boxen.
Ich will zehn nackte Friseusen, oh oh, mit richtig feuchten Haaren.
Morell, dem der Frust schon bis zum Hals stand, stapfte genervt über den dreckigen Fliesenboden und stellte sich in einer Schlange an.
Die erste Station, die er auf dem Weg zum Buffet passieren musste, war die Ausgabe von Geschirr und Besteck. »Herrjeh«, entfuhr es ihm, als er die Behälter voller Messer, Gabeln und Löffel sah, die völlig offen dastanden, so dass ein jeder hineinhusten oder mit ungewaschenen Händen hineingreifen konnte. »Die reinste Bazillenbrutstätte!« Er wühlte Besteck von
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