Neumond: Kriminalroman (German Edition)
Wälder hinein hören konnte. ›Leiser mein Herz‹ flehte er innerlich. ›Wenn du weiterschlagen willst, dann sei jetzt leise‹. Doch sein Herz wollte nicht auf ihn hören und schlug in derselben Intensität weiter.
Er hätte die Schuppe nicht nehmen, sich nicht mit dem Tatzelwurm anlegen dürfen. Er hätte es besser wissen müssen. In den Märchen stand doch geschrieben, was mit Menschen passierte, die sich über die magische Grenze hinwegsetzten. Wie hatte er nur so dumm sein können?! Die anderen hatten wohl recht mit dem, was sie heimlich hinter dem Rücken seiner Mutter tuschelten. Er war ein dummes, zurückgebliebenes Kind, das nicht auf sich selbst aufpassen konnte. Das eine Belastung für seine arme Mutter war.
Bei dem Gedanken an seine Mutter begannen dicke, heiße Tränen seine Wangen hinunterzurinnen. Er wollte zu seiner Mama. Sich in ihrem Schoß verkriechen. Sich an ihren Busen drücken. Den Duft ihrer Haare und ihrer Haut einsaugen. In ihrer Wärme verschwinden.
Die Tränen hinterließen eine salzige Kruste auf seinen Wangen, und die Haut begann unangenehm zu spannen, doch er traute sich nicht, sie wegzuwischen. Er musste das jetzt aushalten. Er hatte es verdient. Er hatte den Tatzelwurm böse gemacht. Hatte ihm seine Schuppe gestohlen.
Als die Tür langsam aufging und ein schmaler Lichtschein vom Flur ins Zimmer fiel, musste Patrick sich eine Faust in den Mund stecken und draufbeißen, um nicht laut loszuschreien. Er schmeckte Blut in seinem Mund, spürte aber keinen Schmerz.
Tappen. Schritte. Mitten im Zimmer. Er presste die Augen zu und war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Sich auflösen. Unsichtbar sein. Im Boden versinken. Mit der Wand verschmelzen. Wollen. Nicht können. Ob Sterben wehtat? Und wie das wohl so war mit dem Himmel? Oma war dort – vielleicht war es also gar nicht so schlimm. Andererseits würde er das Leben vermissen: Mutter, seine Märchenbücher, sein Zimmer, Leberknödelsuppe, den flauschigen kleinen Pudel der Nachbarn …
Die Gedanken an all die schönen Dinge beruhigten ihn so weit, dass er sich wieder auf das Hier und Jetzt konzentrieren konnte. Wo war der Tatzelwurm? Warum hatte er ihn noch nicht geholt?
»Patrick?« Es war die Stimme seiner Mutter. »Bist du hier?«
Das Licht ging an, und er konnte ihre Schritte im Zimmer hören. Er wollte sie vor dem Tatzelwurm warnen, war aber so steif und verkrampft, dass er keinen einzigen Piep herausbrachte.
»Patrick?« Sie schlug die Decke hoch und schaute unter das Bett, direkt in seine angstgeweiteten Augen. »Was soll denn das schon wieder? Und was soll die dumme Schmiererei an deiner Tür?«
Er kannte diesen Gesichtsausdruck – sie war müde und gestresst, aber das war ihm jetzt egal. Er kroch unter dem Bett hervor, ignorierte sie und sah sich im Zimmer um. Nichts. Keine Spur vom Tatzelwurm. »Er war hier. Der Tatzelwurm war hier«, stammelte er, während sein kleiner Körper wie ein Grashalm im Wind zitterte.
»Bitte, Patrick, hör endlich auf damit!« Anna Oberhausner war völlig überarbeitet und hatte keine Nerven für die Spinnereien ihres Sohns.
»Doch!«, schrie Patrick, dessen Nerven auch blank lagen. »Du musst ihn gesehen haben, als du hereingekommen bist. Er war eben noch da! Warum glaubst du mir nie?«
»Patrick, bitte.« Sie fasste ihn am Arm und wollte ihn beruhigen, doch er riss sich los. »Er war hier! Hier in meinem Zimmer! Er wollte mich holen!«
»Patrick. Schatz. Bitte beruhige dich.« Sie zog die Packung mit den Beruhigungsmitteln, die Bertoni verschrieben hatte, aus ihrer Hosentasche. »Hier. Nimm das. Ich hole dir schnell ein Glas Wasser.« Sie reichte ihm eine Pille.
Patrick schlug sie ihr aus der Hand und rannte aus dem Zimmer. »Ich will nicht. Will nicht. Will nicht«, schrie er. »Er war hier. Der Tatzelwurm war hier. Warum glaubst du mir nicht!? Warum?!«
»Mah, freue ich mich vielleicht auf’s Bett. Der Glühwein ist doch mehr eingefahren als ich dachte«, konstatierte Morell gerade, als etwas unsanft gegen sein Bein knallte.
» KEINER GLAUBT MIR !!!«
Völlig perplex starrten Morell, Valerie, Nina und Leander auf den schreienden Jungen, der vor ihnen auf dem Boden lag und sich auf dem Teppich wand.
»Entschuldigung! Bitte verzeihen Sie!« Anna Oberhausner bahnte sich einen Weg durch die vier sprachlosen Gäste, kniete sich hin und versuchte verzweifelt, ihren Sohn zu beruhigen.
» GEH WEG !«, schrie der, während er sich hin und her rollte und
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