Neumond: Kriminalroman (German Edition)
ich muss noch mal schnell wohin. Treffen wir uns einfach oben. Ich mache so schnell ich kann.« Er schnappte sich seinen Schlitten, suchte nach der Toilette und fand, etwas abseits vom Trubel, tatsächlich ein blitzsauberes Dixi-Klo. Auf dem Spülkasten lag eine Zeitschrift des Tourismusverbands. Gemütlich blätterte er sie durch: Langlaufen, Eisstockschießen und Paragleiten waren nichts für ihn. Die Verkostung regionaler Spezialitäten bei diversen Gourmetaktionen war da schon viel eher sein Fall. Er versuchte, sich die Namen der teilnehmenden Gasthäuser einzuprägen: Ratskeller, Blaue Traube, Zum Bärenwirt und Alte Laterne. »Der Bär nimmt eine alte Laterne, geht damit in den Keller und isst dort eine Traube«, baute er sich eine Eselsbrücke und trat ins Freie. Dort stand Sepp Rainer Senior und trat nervös von einem Bein aufs andere.
»Mei, das tut mir leid«, sagte Morell. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie hier draußen warten, hätte ich mich beeilt.«
»Schon gut. Fünf Minuten braucht ein Hund, ein echter Mann braucht eine Stund«, sagte Rainer und verschwand in der großen Plastikbox.
Morell schnappte sich seinen Schlitten, ging zum Lift und erreichte fünfzehn Minuten nach den anderen den Start.
»Alles ganz easy«, erklärte Leander ihm dort das Prozedere des Rennens. »Der Weg führt durch den Wald und ist mit Fackeln und Schildern markiert. Wir müssen einfach nur versuchen, so schnell wie möglich ins Ziel zu kommen.«
»Nummer 53 ?«, rief ein älterer Herr in einer neon-gelben Weste. »Sie sind dran.«
» 53 ? Das bin ja ich.« Nina eilte zum Start und war wenige Augenblicke später in einer Schneewolke verschwunden.
Die anderen drei stellten sich in der Reihenfolge ihrer Startnummern an. 54 für Leander, 55 für Valerie und 56 für Morell.
»Wow.« Der Mann in der neon-gelben Weste starrte Leander hinterher, als dieser an der Reihe war und vollgas die Piste hinunterbretterte. »Das sieht nach einer Bestzeit aus.« Er wandte sich an Valerie. »Sind Sie soweit, Nummer 55 ?«
»Wir sehen uns dann unten, Schatz. Bis gleich!« Sie küsste Morell und sauste los.
Der Mann wartete kurz. »Bereit, Nummer 56 ?«, fragte er dann und hielt eine große schwarze Stoppuhr in die Höhe. »Dann starten Sie in 3 – 2 – 1 und LOS !« Er verpasste Morells Schlitten einen Schubser, und schon sauste dieser die Piste hinunter und in den Wald hinein.
Erst fühlte er sich noch etwas unsicher. Die Geschwindigkeit war ungewohnt, der kleine Schlitten ziemlich wackelig, und die Bäume zu beiden Seiten der Spur standen für seinen Geschmack etwas zu nahe. Vorsichtig zog er an der Schnur, die vorne an den Kufen befestigt war, und der Schlitten steuerte sanft nach rechts. Er bremste leicht, indem er seine Füße in den Schnee stemmte, wurde langsamer und vollführte das gleiche Manöver in die andere Richtung. Das klappte alles schon recht gut.
Langsam kam er auf den Geschmack, und mit jedem Meter, den er zurücklegte, machte das Rodeln mehr Spaß. Er hörte auf, so stark zu bremsen, wurde ein bisschen schneller und genoss es, durch die sternenklare Nacht zu fahren. Herrlich war das. Einfach herrlich. Das sanfte Sausen der Kufen, die durch den Schnee glitten. Die dünne Mondsichel, die immer wieder durch die Baumwipfel blitzte. Das leichte Kribbeln in der Magengegend, das von der Geschwindigkeit verursacht wurde. Kindheitserinnerungen kamen hoch, die von der guten Sorte, und Morell konnte nicht anders, als breit zu grinsen.
Er beschleunigte noch mehr, fühlte den kalten Fahrtwind im Gesicht und konnte ein lautes ›Jippie‹ nicht mehr unterdrücken.
Mittlerweile hatte er ein ganz schönes Tempo drauf. Er bremste kaum noch, und sein hohes Körpergewicht bescherte ihm extra viel Schub. Die folgende Rechtskurve nahm er mit so viel Spaß an der Sache, dass er das laute Knacken der rechten Kufe überhörte. Hätte er es wahrgenommen, hätte er sicher abgebremst; so aber beschleunigte er, vom Ehrgeiz gepackt, noch mehr – immerhin hatte er gerade die einmalige Chance, wieder wettzumachen, dass er sich beim Skifahren so ungeschickt angestellt hatte.
Morell war so voller Freude, dass er alle Ängste über Bord warf und mit vollem Karacho in den letzten Teil der Etappe, den Steilhang, einbog. Leanders Zeit würde er wahrscheinlich nicht unterbieten können, aber er konnte zumindest versuchen, schneller als die Frauen zu sein.
Dieses Mal hörte er das Knacken, konnte es aber nicht klar zuordnen. Kam es
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