Neumond: Kriminalroman (German Edition)
zwei Jahren, da hat ein deutscher Snowboarder sich im Wald verirrt und ist in der Nacht erfroren. Tragisch war das. Ein ganz junger Bursche ist das gewesen. Aber was erzähle ich Ihnen denn da bloß für Horrorgeschichten? Vergessen Sie’s einfach. Wir gehen jetzt ins Ziel und holen Ihnen einen heißen Grog zum Aufwärmen. Sieht so aus, als wären Sie glimpflich davongekommen. Im Gegensatz zu Ihrem Schlitten, der sieht ziemlich hinüber aus. Ein bissi blass um die Nase sind Sie, aber das kommt sicher nur vom Schock.«
Morells Kopf dröhnte.
»Ich bin übrigens Erika.«
»Hallo Erika. Ich bin Otto Morell.«
Sie blieb stehen und strahlte ihn an. »Der Chefinspektor?«
»Ja, woher wissen Sie …?«
»Meine Güte, das ist aber eine Freud’! Mein Neffe, der Oliver, der redet seit Tagen von nichts anderem mehr als von Ihnen. Sie sind sein neues Vorbild. Total glücklich ist er, dass er mit einem echten Profi arbeiten darf.« Sie hakte sich bei Morell unter und stapfte gemeinsam mit ihm weiter durch den Schnee. »Wissen Sie, der Oliver wollte schon immer Polizist werden. Schon seit er ganz klein war. Zum Geburtstag wollte er immer nur Polizeisachen von Lego oder Playmobil haben. Und sobald er lesen konnte, hat er nur noch Detektivgeschichten gelesen. Nix da mit Cowboys oder Indianern. Und im Fasching … Mein Gott, Sie müssen unbedingt mal zu uns zum Kaffeetrinken kommen, dann kann ich Ihnen Fotos zeigen. Die Lisbeth hat dem kleinen Oliver extra eine Polizeiuniform genäht. Meine Güte, hat er darin niedlich ausgesehen. Die wollte er tagelang nicht mehr ausziehen, und dann …«
Von allen Menschen beim Abendrodeln musste ihn ausgerechnet eine von Olivers Tanten finden. Danzer hatte recht – die Tanten redeten wirklich noch mehr und noch schneller als Oliver. Unglaublich, aber wahr.
»Da sind wir ja schon. Gleich haben Sie’s geschafft.«
Erika schob ihn durch die Menschenmenge, und Morell, der immer noch ziemlich orientierungslos war, ließ es einfach geschehen.
»Schatz, da bist du ja! Wir haben uns schon Sorgen gemacht!« Valerie, Nina und Leander kamen auf ihn zugelaufen.
Erika stellte sich vor und erklärte was geschehen war. »Kommen Sie mit. Wir haben da hinten ein feines Plätzchen, da kann der Herr Morell sich hinsetzen und sich vom Schreck erholen.« Sie führte die vier zu einem Glühweinstand, an dem Oliver mit dem Rest der Familie stand und palaverte. »Platz da, Platz da!«, rief sie. »Wir haben hier einen Patienten. Bringt mir einen Stuhl. Schnell. Und einen Grog.«
Wie auf Kommando redeten mindestens zehn Menschen gleichzeitig auf Morell und Erika ein. Ohne Pause. Ohne Atem zu holen. Durcheinander. Ein einziges großes Stimmgewirr.
Morell wurde ganz schwindelig davon. Buchstaben flogen vor seinen Augen herum, bildeten Wörter, lösten sich wieder auf und bildeten neue. ›Unfall‹, ›Schlitten‹, ›Wald‹, ›Glück‹, ›Arzt‹, ›Beule‹. Fremde Hände legten eine Decke um seine Schultern. Jemand drückte ihm eine Tasse in die Hand, in der sich eine heiße, dampfende Flüssigkeit befand. Seine Mütze wurde ihm vom Kopf genommen und sein Schädel abgetastet. Dann leuchtete ein grelles Licht in seine Augen. Erst in das rechte, dann in das linke.
»Gehirnerschütterung ist es wahrscheinlich keine.« Ninas Stimme. »Bis auf ein paar Prellungen und eine dicke Beule scheinst du okay zu sein.«
Morell nickte dankbar und nippte an dem Getränk, das sich als Tee mit Rum herausstellte. Mit viel Rum. Da hatte es jemand gut mit ihm gemeint.
»Mein Gott, Herr Morell, was für ein Schreck.« Oliver.
Er trank schneller.
»Wie gut, dass Tante Erika Sie gefunden hat. Wissen Sie, vor zwei Jahren, da hat ein junger deutscher Snowboarder sich im Wald verirrt …«
Morell stand auf. Er musste schleunigst von hier weg, sonst würde sein Kopf explodieren. »Ich muss mich hinlegen. Ich gehe zurück in den Enzianhof.«
»Ich komme mit«, sagte Valerie.
»Nein Schatz, bleib du ruhig noch bis zur Siegerehrung hier. Mir geht es gut. Und zum Enzianhof ist es ja nur ein Katzensprung. Ein bisschen Ruhe und Alleinsein sind jetzt genau das Richtige.« Valerie kannte ihren Otto – wenn er allein sein wollte, wollte er wirklich allein sein. Auf wackeligen Beinen stapfte er davon.
»Ruf mich sofort an, wenn dir nicht gut ist«, rief sie ihm noch hinterher. »Vielleicht ist es ja doch eine Gehirnerschütterung.«
Für die zehn Minuten, die Morell für die Strecke normalerweise gebraucht hätte,
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