Neumond: Kriminalroman (German Edition)
brauchte er fast doppelt so lange. Er ging ganz langsam und grübelte. Wie konnte das nur passieren? Er schielte auf seinen Bauch. War er wirklich schon so dick, dass er einen robusten Schlitten zum Krachen brachte? ›Ein Bär nimmt eine alte Laterne, geht damit in den Keller und isst dort eine Traube‹, war alles, was ihm einfallen wollte. Er griff sich an den Kopf und entschied, das Nachdenken für heute sein zu lassen. Es würde ja doch nichts Brauchbares dabei rauskommen. Stattdessen lief er leicht benommen den Gehsteig entlang und freute sich auf sein Bett.
Die wunderschönen, auf alt getrimmten Straßenlaternen, die mit ihren reich verzierten Armen und den viereckigen Glaskästen so aussahen, als stammten sie direkt aus dem 18 . Jahrhundert, wo noch jeden Abend ein Lampenknecht von Hand die Öllampen in den Straßen anzündete, waren nicht viel effektiver als die Lampen damals. Das Licht, das sie spendeten, reichte gerade so weit, dass man immer wieder einige Meter im Dunkeln zurücklegen musste, bis man erneut in einen schwachen Lichtkegel trat. »Mehr Sein als Schein.« Morell zog die Jacke enger, um sich vor dem kalten Wind zu schützen, der von Norden kam, und durchquerte eine erneute Dunkeletappe. ›Out of the dark. Into the light‹, fiel ihm ein altes Falco-Lied ein, als er die nächste Laterne passierte.
Ein wohliger Schauer durchströmte ihn, als er endlich die Lichter des Enzianhofs sah. »Bad und Bett, ich komme«, murmelte er und hoffte, dass er morgen so weit wieder hergestellt sein würde, dass er über den Zwischenfall beim Rodeln lachen konnte.
Schließlich betrat er das gut beheizte Zimmer, entledigte sich seiner nasskalten Kleidung und drehte das Wasser in der Badewanne auf.
Während er sich frische Unterwäsche aus dem Schrank holte, sah er aus den Augenwinkeln, dass irgendetwas auf seiner Bettdecke lag. Irgendetwas ziemlich großes, etwas fleischiges.
Als er realisierte, um was es sich handelte, wurde er von einer Welle der Übelkeit erfasst.
47
»Patrick? Wo bist du denn?« Anna Oberhausner war endlich mit der Arbeit fertig und bereit für das alltägliche Abendritual mit ihrem Sohn, das aus einer Gutenachtgeschichte, einer Tablette und einem Gutenachtkuss bestand.
Normalerweise wartete er schon im Bett auf sie, aber heute war im ganzen Zimmer keine Spur von ihm zu sehen. Hoffentlich hatte er nicht wieder einen seiner Anfälle und rannte schreiend in der Pension herum. Sie lauschte, konnte aber nichts hören.
»Patrick?« Sie schaute unter dem Bett nach, wo sie ihn gestern schon gefunden hatte. Nichts. Hinter dem Vorhang war er auch nicht, und der Schrank war ebenfalls leer. »Patrick?«
Sie schaute in der Küche nach, im Bad, der Toilette, in ihrem Schlafzimmer, durchkämmte die Flure der Pension und suchte ihn sogar auf Dachboden und im Keller. Er blieb verschwunden.
Mit zitternden Fingern und einer unguten Vorahnung zog sie sich eine Jacke über und ging zu den Nachbarn. Vielleicht war er ja hier, um den kleinen Pudel zu besuchen, den er so gerne hatte … Doch die Nachbarin schüttelte nur den Kopf und beteuerte, dass sie Patrick nicht gesehen hatte.
Anna Oberhausner eilte zurück in den Enzianhof, und bei jedem Schritt wuchs die Angst in ihrem Bauch. Wo konnte er nur sein? Was, wenn ihm etwas geschehen war? Er hatte sich doch wohl nichts angetan?
Als sie die Eingangstür durchschritt, hatte sich die Angst zu einer regelrechten Panik ausgewachsen.
» PATRICK ?!«, schrie sie völlig aufgelöst mitten in der Lobby. Die meisten Gäste waren sowieso beim Abendrodeln, ganz abgesehen davon, dass es ihr egal war, ob sich jemand an ihrem Geschrei störte. Patrick war das Einzige, das jetzt wichtig war. Sollten sie doch alle von ihr denken, was sie wollten. Sollten sie sie doch für hysterisch halten. Sollten sie doch früher abreisen oder in der nächsten Saison nicht mehr kommen. Es war ihr egal. Hauptsache Patrick war nichts passiert.
» PATRICK ?!«, schrie sie so laut sie konnte. Doch sie bekam keine Antwort. Das einzige Geräusch, das zu vernehmen war, war das leise Surren der Deckenbeleuchtung.
48
Morell spürte ein heftiges Rumpeln in seinem Magen und presste die Hände auf den Mund. So sehr er es auch wollte, er konnte den Blick nicht von den zwei toten Augen abwenden, die ihn aus seinem Bett anstarrten.
Ihm wurde schwindelig, bunte Sternchen begannen vor seinen Augen zu tanzen. Er musste sich hinsetzen. Sofort. Hier und jetzt. Also ließ er sich, nur mit weißer
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