Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
dicht vor ihr, dass sie ihren Atem spüren konnte.
»Verdammt, du hörst ja gar nicht richtig zu!« Annas braune Augen funkelten, im nächsten Moment wurde Jolin an den Schultern gepackt und geschüttelt. »Sieh mich an, Jol! Los, sieh mich an!«
Die Kälte verschwand, nur ihr Herz fühlte sich noch immer wie erfroren an.
»Ich meine nicht den Tod im Allgemeinen«, sagte Anna, genau genommen schrie sie es, »sondern den, der Klarisse diese E-Mails geschrieben hat … der, mit dem sie sich getroffen hat.«
»Nein«, sagte Jolin. »Das hätte sie niemals überlebt.«
»Ja, erinnerst du dich denn gar nicht mehr?«, keifte Anna und rüttelte weiter wie eine Besessene an ihren Schultern herum. »Es war eine Neumondnacht! Kapierst du: Neumond! Danach war Klarisse krank, und als sie wieder zur Schule kam, hat sie so getan, als ob nichts gewesen wäre. Aber, Jolin, ich weiß, dass etwas war. Ich habe sie nämlich beobachtet.«
»Aha. Und wieso hast du das getan?«, fragte Jolin monoton.
»Weil sie so still war, so in sich gekehrt. Gar nicht mehr wie die alte Klarisse. Katrin, Melanie und Rebekka haben zwar nicht viel drum gegeben, du weißt schon, von wegen sie sei unglücklich verliebt und so. Aber mir ist etwas aufgefallen, Jol, etwas, das total seltsam war und das jetzt, nachdem du endlich mit diesem ganzen Wahnsinn herausgerückt bist, einen Sinn bekommt.«
»Aha. Und was?«
»Immer, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, hat sie an ihrem Unterarm herumgesaugt. Und einmal habe ich sie im Waschraum dabei ertappt, wie sie ihn unter den Wasserstrahl gehalten und wie eine Blöde daran herumgerubbelt hat.«
»Was meinst du mit … ertappt?«
»Na ja, sie ist zusammengezuckt, und sie hat den Ärmel ihres Pullis sofort heruntergezogen, obwohl ihr Arm noch klitschnass war.« Anna schüttelte entschieden den Kopf. »Ich meine, das macht doch kein Mensch.«
»Hast du sie darauf angesprochen?«, fragte Jolin.
»Klar.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Dass ihr Füller auf dem Schreibtisch ausgelaufen wäre und sie sich versehentlich in den Klecks gestützt hätte.«
»Kein Grund, den Arm zu verstecken.«
»Eben.« Jetzt nickte Anna heftig. »So eitel ist Klarisse nicht mehr.« Sie sah Jolin an, und ihre braune Iris zuckte eindringlich hin und her, als suche sie eine Erklärung im Blick ihrer Freundin. »Wie kannst du nur so ruhig sein?«, stieß sie schließlich hervor.
»Ich bin gar nicht ruhig«, sagte Jolin. Wie auf Knopfdruck sank sie in sich zusammen, und mit einem Schlag war alles wieder da: die Bibliothek, Roubens Gesicht, seine Stimme, die Angst, die Verzweiflung und dieser grauenhafte Schmerz in ihrer Brust.
»Was ist los?«, rief Anna erschrocken.
»Nichts«, wisperte Jolin. »Nichts.« Sie fiel vornüber, schlang die Arme um den Hals der Freundin und vergrub ihren Kopf in deren Halsbeuge. »Lass mich nicht allein. Bitte, bitte, bleib bei mir … bitte.«
»Ist ja schon gut«, murmelte Anna, »Ist ja schon gut.« Ihre Hände wanderten über Jolins Rücken, nicht tröstend, sondern fahrig und selbst Halt suchend. »Ich geh nicht weg. Ich bleibe bei dir. Die ganze Nacht, wenn du willst, und morgen und immer …«
Gunnar Johansson betrat die Wohnung um kurz nach halb acht. Jolin hörte das typische Knarzen, das das Scharnier der Schuhschrankklappe verursachte. Ihr Vater hatte es etliche Male auseinandergeschraubt, geölt und wieder eingesetzt, nichts hatte nachhaltig geholfen. Offenbar gehörte dieses Geräusch zu diesem Möbelstück wie die Wärme zum Sommer oder die Kälte zum … Nein, Jolin wollte diesen Gedanken nicht zu Ende führen. Sie wollte nicht an Vincent oder Rouben denken, und doch tat sie nichts anderes.
Langsam setzte sie sich auf.
»Was hast du vor?«, fragte Anna, die gerade damit beschäftigt war, ihrer Mutter eine SMS zu schicken, in der sie ihr mitteilte, dass sie bei Jolin übernachten würde.
»Mein Vater«, sagte Jolin. »Er ist da.«
Paula rannte immer gleich durch die Wohnung und sah in allen Zimmern nach, um sich zu vergewissern, ob jemand zu Hause war. Gunnar kümmerte sich als Erstes um seinen Mantel und die Schuhe.
Jolin huschte zur Tür und entriegelte sie lautlos.
»Hallo, Pa!«, rief sie in den Flur. »Anna übernachtet heute bei mir.«
Gunnar Johansson nickte. Ein Schatten lag über seinen Augen, doch dann lächelte er. »Das ist schön, mein Schatz«, sagte er. »Das freut mich … Ähm … deine Mutter kommt allerdings erst gegen Mitternacht heim. Wir müssen
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