Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
Kappe ihres Gelstifts ab und blätterte den Kollegblock auf, allerdings nicht, um sich Notizen zur Gentrifizierung Berlins zu machen, die der arme, immer ein wenig übernervöse Johannes heute vortragen musste, sondern um eine Nachricht für Anna aufzuschreiben.
Bitte such nicht nach mir (das ist wichtig!!!). Sag niemandem etwas (das könnte lebenswichtig sein!!!) Du bist die Einzige, der ich vertraue, also vertrau du mir bitte auch!
Ich melde mich bis spätestens morgen Mittag!
Damit Anna die Notiz nicht sofort auffiel, legte Jolin ihre Federtasche darüber. Zehn Minuten vor Ende der Stunde bat sie, zur Toilette gehen zu dürfen, was ihr Frau Biederstedt murrend gestattete.
Anna blickte stirnrunzelnd auf, doch Jolin beruhigte sie mit einem leichten Klaps auf die Schulter und einem Lächeln, das ihr erstaunlich leicht über die Lippen kam. »Ich schaff’s einfach nicht mehr bis zur Pause«, flüsterte sie, huschte, ohne sich noch einmal nach der Freundin umzudrehen, zwischen den Tischreihen entlang zur Tür und schlüpfte auf den Gang hinaus.
Natürlich hatte sie jetzt weder ihre Tasche noch ihre Jacke dabei, aber wenigstens hatte sie heute Morgen bereits vorsorglich ein paar Geldscheine in die Hüfttasche ihrer Jeans gestopft. Fünfzig Euro würden hoffentlich genügen.
Mit strammen Schritten lief Jolin die Treppe zur Pausenhalle hinauf, steuerte den Bürotrakt an und verließ das Gebäude durch den Hintereingang. Erst dann fing sie an zu rennen, nahm den Umweg über die Kantstraße, die sich in einer langgezogenen Kurve durch eine Hochhaussiedlung wand und erst ein ganzes Stück unterhalb der U-Bahn-Station in die Lessingallee mündete. Jolin hoffte, dass sich auch dort in der Nähe des zweiten Abgangs Taxistände befanden, und sie wurde nicht enttäuscht.
Zielstrebig hielt sie auf den vordersten Wagen zu und setzte sich schräg hinter die Fahrerin – eine üppige Blondine mittleren Alters, die eine knallrote Brille und ein freundliches schiefes Grinsen im Gesicht hatte – auf die Rückbank.
»Ich möchte bitte nach Lienenthal«, sagte Jolin. »Allerdings kenne ich die genaue Adresse nicht. Das Anwesen liegt etwas außerhalb des Ortskerns.«
»Das macht überhaupt nichts, Mädchen.« Die Taxifahrerin startete den Motor und legte – was ihre männlichen Kollegen so gut wie nie taten – den Sicherheitsgurt an. »Hauptsache, Sie kennen den Weg.«
Jolin nickte. »Ich denke schon. Jedenfalls so ungefähr. Glauben Sie, dass wir mit fünfzig Euro hinkommen?«
»Wenn wir die Uhr ignorieren, reichen sogar dreißig«, erwiderte die Fahrerin und schenkte Jolin ein weiteres schiefes Grinsen.
Nachdem das Taxi die Stadtgrenze passiert hatte, wuchs Jolins Anspannung von Minute zu Minute. Sie hatte kein Problem damit, sich in der Gegend zurechtzufinden, und leitete die Fahrerin sicher über die Bundesstraße bis zu der Stelle, an der sie zu Roubens Haus abbiegen mussten.
Jolin umfasste die Rückenlehne des Vordersitzes und zog sich nach vorn. »Hier können Sie anhalten … bitte«, sagte sie leise.
Die Fahrerin bremste. »Hier?«
Jolin räusperte sich. Ihr Hals fühlte sich wie zugeklebt an. »Ja, bitte.«
Die Taxifahrerin lenkte den Wagen direkt hinter der Einmündung der Querstraße an den Seitenrand, drehte sich zu Jolin um und musterte sie eingehend. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Klar.« Jolin grinste schlapp.
»Gut.« Die Fahrerin lächelte, aber ihr war anzusehen, dass sie nicht überzeugt war. »Wissen Sie, ich lasse junge Dinger wie Sie nicht so wahnsinnig gern allein in einer solchen Einöde zurück.«
»Schon okay.« Jolin bemühte sich um einen festen Tonfall. »Ich habe eine Verabredung mit meinem Freund«, erwiderte sie. »Es wird wahrscheinlich kein einfaches Gespräch werden, und deshalb würde ich vorher gern noch ein paar Schritte laufen, weil ich mir ein paar Dinge zurechtlegen muss.« Während Jolin diese Erklärung abgab, fragte sie sich, warum sie es überhaupt tat. Diese Taxifahrerin war eine wildfremde Frau, die Privatangelegenheiten ihrer Fahrgäste gingen sie nicht die Bohne was an.
»Haben Sie gar keine Jacke dabei?«, fragte die nun.
Jolin seufzte. »Es ist wirklich sehr lieb von Ihnen, dass Sie sich all diese Gedanken um mich machen, aber ich komme schon zurecht. Es ist ja nicht weit.« Sie fingerte die Geldscheine aus ihrer Hosentasche, reichte der Fahrerin dreißig Euro und bekam einen Zehner zurück. »Zwanzig sind mehr als genug. Machen Sie es gut, Mädchen.
Weitere Kostenlose Bücher