Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
sich auf die Bank gegenüber, rutschte bis zum Fenster durch und zog Jolin neben sich.
»Und wenn er’s war?« Katrin sah Jolin flüchtig an. »Entschuldige, aber …«
»Er war’s nicht!«, sagte Rebekka entschieden. »Wir kennen ihn doch. Rouben kann keiner Fliege etwas zuleide tun.«
»Woher willst du das so genau wissen?«, erwiderte Katrin. »Wir glauben doch nur, ihn zu kennen. In Wahrheit wissen wir gar nichts über ihn. Vielleicht ist er ein netter Kerl, genauso gut könnte er aber auch ein Psychopath sein.«
Jolin spürte Annas Hand an ihrem Unterarm. Nicht aufregen, sollte ihr der sanfte Druck wohl signalisieren, aber das war natürlich leicht gesagt. Im Moment wusste Jolin weder was sie denken noch was sie tun sollte. Die Gefühle tobten in ihr, keins davon war wirklich greifbar, und alles wurde dominiert von einer Angst, die sich nicht zwischen dumpf und diffus und grell und panisch entscheiden konnte. Am liebsten wäre Jolin aufgesprungen und hätte einfach nur gebrüllt.
»Niemand hat ihn dabei beobachtet, wie er die Frau umgebracht hat«, hörte sie Anna argumentieren. »Oder sehe ich das falsch?«
Katrin und Rebekka zuckten mit den Schultern.
»Er könnte also tausend Gründe gehabt haben, in diese Containersiedlung zu gehen«, fuhr Anna fort. »Vielleicht wollte er etwas recherchieren … um Jolin, Leo und mich bei unserem Projekt zu unterstützen.«
Rebekka legte die Stirn in Falten. »Mitten in der Nacht? Glaubst du das wirklich?«
»Ja, wieso nicht?«, erwiderte Anna aufgebracht. »Nachts passieren manchmal die merkwürdigsten Dinge.«
»Eben«, brummte Katrin. »So wie damals bei Carina. Und das soll ja auch Rouben gewesen sein.«
War er aber nicht, dachte Jolin.
»Das wurde immer bloß behauptet«, entgegnete Rebekka. »Niemand von uns weiß genau, was Carina eigentlich gesehen hat. Ihre Eltern haben jedenfalls keine Anzeige gegen Rouben erstattet, so eindeutig kann ihre Aussage also nicht gewesen sein. Und wenn Rouben irgendwann dazu befragt worden wäre, wüssten wir das ja wohl.«
Katrins Augen verengten sich. »Sicher?«
»Sicher ist eigentlich nur eins«, sagte Anna ernst. »Nämlich dass wir auf dem besten Weg sind, eine Hetzjagd loszutreten. Und zwar allein durch die Aneinanderreihung von Halbwissen und Spekulationen.«
Jolin ließ ihren Kopf auf die Schulter der Freundin sinken und schloss die Augen. – Die gute Anna! Ausgerechnet sie, die es besser wusste, stellte sich auf Roubens Seite.
»Du hast recht«, sagte Rebekka. »Und überhaupt! Wir müssen schließlich auch an Jolin denken. Die Einzige, die das eben wirklich getan hat, ist Klarisse. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte dieser blöde Sicherheitsfuzzi Jolin niemals gehen lassen.«
Katrin nickte. »Stimmt.« Sie drehte den Kopf und reckte den Hals über ihre Schulter hinweg. »Wo ist sie überhaupt?«
Während des Erdkundeunterrichts in den ersten beiden Stunden bekam Jolin sich allmählich wieder in den Griff. Der Druck unter ihrem Brustbein war in ein beständiges scharfes Brennen übergegangen, aber zumindest konnte sie wieder klar denken. Anna saß neben ihr, und das fühlte sich gut an, trotzdem blieb Jolin unentschlossen, ob sie die Freundin in ihre Pläne einweihen sollte oder es besser ließ. Dass Anna fest zu ihr hielt, hatte sie bewiesen, wahrscheinlich würde sie darauf bestehen, ihr unter keinen Umständen von der Seite zu weichen – was auch immer passierte, doch Jolin wollte sie auf keinen Fall dabeihaben. Harro Greims, die Frau aus der Containersiedlung, Carina – das waren bereits zu viele Opfer, und Jolin konnte überhaupt nicht abschätzen, was heute – in dieser Vollmondnacht – noch alles geschehen würde. Sicher war nur, dass etwas geschah. Vielleicht war Klarisses seltsames Verhalten ein erstes Zeichen. Bisher war sie jedenfalls noch nicht wieder aufgetaucht, und das beunruhigte Jolin zutiefst.
Was, wenn es tatsächlich eine zweite Prophezeiung gab? Wenn die Zeit aus irgendeinem Grund, der sich weder ihr noch Rouben erschloss, außer Kraft gesetzt war und Vincent nun doch nicht über tausend Jahre auf seine nächste Chance warten musste, sondern bereits in dieser Nacht von den Untoten auferstehen durfte? Jolin hatte keine Ahnung, wie, sie wusste nur, dass sie genau das um jeden Preis verhindern musste.
Was auch immer sie tun würde, es war lebensgefährlich, und das würde natürlich auch Anna sofort klar sein – womit Jolins Entschluss endgültig feststand.
Sie zog die
Weitere Kostenlose Bücher