Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
deshalb so unvermittelt und tief.
Katrin und Rebekka kreischten gleichzeitig auf, und wie auf Kommando starrten sämtliche Leute, die in einem Umkreis von fünf bis zehn Metern um sie herumstanden, zu ihnen herüber. Einige begannen miteinander zu tuscheln, und schließlich löste sich ein uniformierter Bahnbeamter, der offenbar zum Sicherheitspersonal gehörte, heraus und kam auf sie zu.
»Kennen Sie den Mann?«, fragte er scharf.
Katrin öffnete den Mund. »… Äh …«
»Nein«, sagte Jolin hastig. »Natürlich nicht.«
Anna nickte heftig. »Er sieht nur so … so gruselig aus.«
Der Beamte, eine bulliger Typ mit raspelkurzen Haaren, langen dünnen Koteletten und mindestens drei Köpfe größer als sie, blitzte sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie um Auskunft gebeten zu haben, junge Dame.«
»Aber wir gehören doch alle zusammen«, erwiderte Anna. Sie nickte zur Leinwand hinüber. »Und diesen Typen da hat garantiert keine von uns jemals gesehen.«
»Sie hat recht«, meldete sich Klarisse zu Wort. Sie war inzwischen zu Katrin und Rebekka getreten und lächelte einvernehmlich. Ihre Gesichtszüge wirkten auf nahezu unwirkliche Weise entspannt, und die Worte perlten samtig, fast schon zärtlich über ihre Lippen. »Wir kennen diesen jungen Mann nicht, und wir sind wirklich mehr als froh darüber … das dürfen Sie uns schon glauben.«
»Nun ja …« Der Beamte schob seine Mütze so weit über die Stirn, dass der Schirm seine Augen beschattete, und kratzte sich am Hinterkopf. »Vielleicht schauen Sie sich diesen Kerl noch mal genau an …« Ein hoffnungsvoller Blick streifte Katrin und Rebekka und blieb schließlich an Klarisse hängen, die sich inzwischen lässig auf den Schultern ihrer Freundinnen abgestützt hatte und noch immer lächelte.
»Ganz wie Sie wünschen«, säuselte sie und nickte Jolin, Anna, Rebekka und Katrin zu. »Dann lasst uns der Bitte dieses überaus netten Herrn doch mal Folge leisten«, sagte sie und sah mit demonstrativem Wimpernaufschlag zum Nachrichtenschirm hinüber.
Jolins Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Sie hatte kein Problem damit, sich Roubens Phantombild anzusehen, im Gegenteil: Sein Anblick, wenn auch nur in Schwarzweiß und mehr als unvollkommen, war für sie wie eine Offenbarung. Ihr Puls schnellte so rasch in die Höhe, als ob Rouben leibhaftig vor ihr stünde und sie nur die Hand ausstrecken musste, um ihn zu berühren.
»E-er sieht ziemlich gut aus«, stammelte Katrin.
»Das ist ja nicht verboten«, brummte der Sicherheitsbeamte.
»Schon«, sagte Katrin. »Aber man traut ihm so etwas Schreckliches irgendwie gar nicht zu.«
»Es ist den Leuten eben nicht anzusehen«, erwiderte der Beamte. Er schob seine Mütze in den Nacken zurück. »Wäre ja auch zu schön.« Jolin spürte, wie sein Blick sie durchbohrte. Gewaltsam riss sie sich von Roubens Antlitz los. Ihr Herz tobte, und sie spürte, wie ihr schon wieder der Schweiß ausbrach. »Oder ist Ihnen an dem jungen Mann eventuell etwas Besonderes aufgefallen?«
Jolin fühlte sich wie eine Schauspielerin in einem schlechten Film. Die zu einem drohenden Zickzack zusammengezogenen Augenbrauen des Sicherheitsbeamten, seine immer drängenderen Fragen und ihre wirr zusammengestotterten Antworten, die Leute auf dem Bahnsteig, die ihre Hälse reckten und sie misstrauisch angafften, und Klarisses samtig dunkle Stimme, die so schön beruhigend wirkte, und dann endlich das stählerne Brummen des herannahenden Zuges, vorbeirasende erleuchtete Fenster, plötzliches Gedränge und Geschubse und schließlich jemand, der sie packte und in den Wagen zerrte.
»Komm«, zischte Anna. »Weg hier … Wir gehen ganz nach hinten durch.«
»Da ist noch ’n Platz!«, rief Rebekka. »Ein Vierer!«
Sie drängte sich vorbei, und auch Jolin wurde weitergeschoben. Ihr Kopf fühlte sich weich und wattig an, aber unter ihrer Schädeldecke pochte es, als würde sie jemand mit Hammer und Meißel bearbeiten. »Was hab ich denn gesagt?«, murmelte sie. »Hab ich ihn …?«
»Nein, du hast ihn nicht verraten«, raunte Anna. »Beruhig dich, Jol, bitte beruhig dich. Alles ist okay.«
»Aber es war Rouben«, sagte Katrin. »Ganz eindeutig.« Sie blieb stehen und ließ sich neben Rebekka fallen, die gerade noch ihre Tasche unter ihr wegziehen konnte. »Und eigentlich hätten wir es sagen müssen.«
»Diesem Idioten von einem Bahnhofsfuzzi?« Anna tippte sich an die Stirn. »Never!« Sie setzte
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