Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
Stein eingraviert um sie herum im Gras lagen. Sie zitterte am ganzen Körper, und der Schmerz in ihrem Herzen drohte sie von innen heraus zu verbrennen. War das Vincents Plan? Rouben zu den Untoten zu schicken, ihre Freundinnen zu töten und sie allein mit diesem unsäglichen Schmerz in der Menschenwelt zurückzulassen? Wollte er mit seiner Rache in Wahrheit gar nicht ihn treffen, sondern sie? Weil sie nicht ihn, sondern seinen Bruder liebte und ihm damit die Erfüllung der Prophezeiung vermasselt hatte? – Nein, nein, nein. Jolin schüttelte den Kopf. Ganz so einfach konnte die Sache nun auch wieder nicht sein. Vincent war abgrundtief schlecht, so schlecht, dass alles, was seinen dunklen Gedanken entsprang, jede menschliche Vorstellungskraft übertraf. Jolin musste davon ausgehen, dass er jedem aus ihrem Umkreis zu jedem Zeitpunkt das höchste Maß an Leid zufügen würde, erst dann würden seine Rachegelüste vollends befriedigt sein.
Mit aller Gewalt zwang Jolin sich dazu, weder an ihre Eltern noch an ihre Freundinnen zu denken, sondern sich mit ganzer Kraft auf Rouben zu konzentrieren. Sie musste ihn finden, sie musste ihn noch einmal berühren, vor allem aber musste sie ihm sagen, dass er keine Angst um sie zu haben brauchte. Erst wenn er vollständig verwandelt war, würde er ihr vielleicht gefährlich werden können. Aber darum ging es Vincent ja gar nicht. Alles, was der wollte, war: Rouben leiden zu sehen, und zwar so lange wie nur irgend möglich, und deshalb würde er die endgültige Verwandlung seines Bruders bis zum letzten Moment hinauszögern, denn nur so würde er jede einzelne Sekunde bis zum bitteren Ende – für sie alle! – auskosten können.
Die Übelkeit war plötzlich und heftig, sie fühlte sich an, als ob ihr jemand mit der Faust in die Magengrube geschlagen hätte. Jolin presste eine Hand auf ihren Bauch und sank wie ein Klappmesser in sich zusammen. Stöhnend ließ sie sich auf die Eingangsstufen hinunter und drückte die Faust der anderen Hand gegen ihre Schläfe.
Oh, wie sie Vincent hasste! Sie hasste ihn, weil er so viele unschuldige Menschen quälte, vor allem aber hasste sie ihn für das, was er Rouben antat. Und deshalb musste sie Rouben finden, sie musste ihm von Vincents Vorhaben erzählen, ihm sagen, dass sie, Jolin, am Leben bleiben würde, denn nur dann würde Rouben vielleicht noch einmal für ein paar Momente glücklich sein können. Alles andere war ihr egal. Nur dieser eine winzige Augenblick Glück für Roubens gequälte Seele, mehr wünschte Jolin sich nicht mehr. Er sollte die Menschenwelt nicht mit dem Gefühl von Schuld und Leid verlassen, sondern mit der Erinnerung an ihre Liebe, und wenn es irgendwo so etwas gab wie einen gnädigen Gott, dann würde er ihr diesen Wunsch doch nicht verwehren können!
Der Übelkeit folgte eine lähmende Kälte, die Jolin hinterrücks überfiel, ihr den Atem nahm und sie schließlich von Kopf bis Fuß einfing und mit sich forttrug.
Und der Kälte folgte die Dunkelheit. Nicht einmal in ihren schrecklichsten Träumen hätte Jolin sich vorstellen können, dass es eine Dunkelheit gab, die von einer solchen Dichte war. Abgrundtief schwärzestes Schwarz stand vor ihren Augen, gefror ihre Gliedmaßen und ließ sie in ihrem eigenen Körper ersterben, ohne sie wirklich zu töten.
Jolin sah nicht das Geringste. Sie hörte nichts, und sie fühlte nichts, und sie hatte auch kein Gespür mehr für die Zeit, die stillstand oder verstrich, und trotzdem wusste sie, dass sie getragen wurde und sich die Lage ihres Körpers veränderte ebenso wie der Ort, an dem er sich befand.
Als sich die Kälte zurückzog, fiel Licht durch ein Fenster. Jolin schoss vom Bett hoch, auf dem sie lag. Das Zimmer war klein, aber hell und gemütlich. Außer diesem Bett gab es einen Tisch unter dem Fenster und einen Stuhl davor. Das Fenster befand sich im Dach, und vom Bett aus konnte Jolin direkt in den Himmel sehen. Kleine weiße Wolken trieben über zartes Blau, als hätten sie es sehr eilig – und mit einem Schlag war sie wieder voll da.
Jolin stürzte auf die Tür zu, die sich öffnete, ehe sie sie erreichte, und erst als sie ihn sah, wurde sie sich des Duftes bewusst, der im Zimmer hing.
Es war Roubens Zimmer … und es war Rouben, der in diesem Moment hereinkam, die Tür hinter sich schloss und sie ansah. Seine Augen, schwarz wie die Nacht und ohne jedes Leben darin, lagen tief in ihren Höhlen, und die Schatten darunter hoben sich wie dunkle Halbmonde
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