Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
der Hand, und links neben dem Tisch hatte sich eine kleine Musikkapelle aufgestellt, die nun einen Tusch spielte.
Gunnar Johansson hielt seiner Tochter die Hand entgegen, Jolin ergriff sie und zog sich mit einem kräftigen Schwung neben ihn auf den Tisch.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich vielleicht einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte …« Eine kleine Pause entstand, dann fuhr der Bürgermeister fort: »Eigentlich müsste ich diesen jungen Herrschaften böse sein, dass ich erst so spät von ihrer beispielhaften Initiative erfahren habe …« Sein Lachen klang falsch und übertrieben. Jolin sah kurz Anna an und ließ ihren Blick dann über die vielen Leute gleiten, die an den Tisch herangetreten waren oder sich ihnen zugewandt hatten, und viele davon erkannte Jolin wieder. Lehrer und Schüler des Albert-Schweitzer-Gymnasiums, Rebekka, Katrin, Susanne und Melanie natürlich, dann die beiden eleganten Damen, die Anna an ihrem Infostand so sehr für diese Sache begeistert hatte, Leute aus ihrer Straße und andere, die ihr schon mal an der U-Bahn-Station aufgefallen waren, dann die Taxifahrerin, die sie nach Lienenthal hinausgefahren hatte … sogar die Polizisten, die abends vor ihrem Haus aufgetaucht waren.
Als ob ich unter Bewachung stehe!, schoss es Jolin durch den Kopf, und mit einem Mal lag ein schwerer dunkler Druck auf ihrem Herzen. Für einen Moment schloss sie die Augen, und als sie sie wieder öffnete, sah sie ihn: Rouben!
Er lehnte ein wenig abseits im Schatten eines der unbewohnten Container an einer heruntergekommenen Baubaracke und lächelte ihr zu. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und die Arme vor der Brust verschränkt. Seine verwuschelten schwarzen Haare glänzten und sein olivfarbenes Hemd stand ein wenig offen.
Jolins Herz raste los. Mit allem hatte sie gerechnet, aber ganz sicher nicht damit, dass er am helllichten Nachmittag hier auftauchen würde, ausgerechnet an diesem Ort, an dem es vor Menschen nur so wimmelte, wo ihn jeder sehen konnte … und zweifelsohne auch erkennen würde.
Was soll das?, dachte sie, während sie zu ihm hinüberstarrte. Was hast du vor? Willst du … in der Sonne sterben? Vor meinen Augen? – Nein! Bitte, tu mir das nicht an!
Jolin legte alles Flehen in ihren Blick, bis ihr siedend heiß klar wurde, dass sie durch ihr Starren womöglich die Aufmerksamkeit der Leute in seine Richtung lenkte, und schlug hastig ihre Lider nieder. Voller Anspannung erwartete sie das Ende der Ansprache des Bürgermeisters, wie in Trance nahm sie seine Gratulation entgegen und lächelte in die Runde. Noch ehe der Applaus verebbte, sprang sie vom Tisch herunter, raunte ihrer Mutter, die ihr kopfschüttelnd entgegensah, noch schnell »Ich muss ganz dringend mal … bin gleich wieder da« zu und steuerte zunächst tatsächlich die Dixieklos an, tauchte jedoch hinter einem der Container ab und hielt dann geradewegs auf die Baracke zu.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Jolin noch einen Schatten, der ihr folgte, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie dachte nur an Rouben und wollte unbedingt verhindern, dass er etwas Unüberlegtes tat. Er durfte sich auf keinen Fall den Leuten zeigen, er musste von hier verschwinden, und zwar sofort. Und er durfte nicht vor ihren Augen zu Staub zerfallen, das würde sie ihm nie verzeihen!
Jolin rannte so schnell sie konnte, noch eine Containerlänge und die wenigen Schritte bis zur Baracke, dann stand sie vor ihm. Bis auf das Lächeln um seine Mundwinkel war Roubens Gesicht genauso starr wie bei ihrer letzten Begegnung, und es war nur noch die Ahnung eines goldenen Glanzes, der in seinen schwarzen Augen aufblitzte.
»Bitte, Rouben«, wisperte Jolin. »Mach das nicht. Lauf weg von hier.«
»Das ist unmöglich, Jolin«, erwiderte er leise. »Ich ertrage es nicht mehr, von dir getrennt zu sein.« Er drückte sich von der morschen Holzwand ab und hielt ihr seine geöffnete Hand entgegen.
Der eiskalte Luftzug, den seine Bewegung verursachte, jagte Jolin einen Schauer über die Haut. Sie bemerkte die tiefe Traurigkeit, die hinter seinem Lächeln lag, und eine Sehnsucht, so stark wie sie sie nie zuvor empfunden hatte, nahm von ihr Besitz. »Aber ich will doch gar nicht von dir getrennt sein«, flüsterte sie, während sie ihre Hand hob, um sie in seine zu legen. »Ich komme mit dir, wohin du auch gehst. Ich liebe dich … Für immer und ewig.«
»Meine Jol«, sagte Rouben. »Verzeih mir, dass ich dir all das antun musste,
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