Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)

aber ich hatte keine Wahl.«
    »Ich weiß, mein Liebster.« Jolin wollte seine Hand gerade berühren, da trat eine große dunkle Gestalt hinter der Barackenwand hervor. Sie hatte die Arme hoch über den Kopf erhoben, und im Licht der Sonne blitzte etwas Metallisches auf, das Jolin im ersten Moment wie ein Heiligenschein vorkam, und erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie Leonhart. Ja, es war tatsächlich Leonhart.
    Jolin öffnete den Mund, doch noch ehe ein Laut aus ihrer Kehle drang, ertönte hinter ihr ein Schrei, der tief in ihrem Herzen sein entsetztes Echo fand. »Nein, Jol, neiiin! Ich bin das nicht!«
    Jolin erstarrte. Sie sah Rouben an und nahm zögernd ihre Hand zurück. Dann wirbelte sie herum.
    Aus einer Menschengruppe, die im Schatten eines Containers stand, löste sich Rouben noch einmal. Blinde Verzweiflung im Gesicht, raste er auf Jolin zu, und im selben Augenblick, in dem sein Körper ins Sonnenlicht eintauchte, zersprang er in Millionen winziger Glitzerkörnchen.
    »Neeeiiin!«
    Jolins Brust drohte unter ihrem eigenen Schrei zu bersten, ihr Herzschlag gefror, und ihre Seele zersplitterte. Sie spürte nicht mehr, dass sie sich bewegte, dass sie ihm entgegenrannte und ihre Arme in das glitzernde Funkeln des Vampirstaubs tauchte.
    Es gab kein Atmen mehr und kein Pulsieren, nur Kälte und Dunkelheit und Stille, dann schlug sie auf dem Boden auf. Sie hörte ein lautes, wütendes Brüllen, das aus der Kehle eines Tieres zu kommen schien, registrierte, wie Leo gegen die Barackenwand geschleudert wurde und wie Vincent, der sich eben noch auf sie stürzen wollte, plötzlich wegrannte.
    Von irgendwoher erschallte ein Ruf: »Da ist er!«
    Es war Klarisses Stimme. Jolin sah, wie sie ihm in langen Sätzen und so geschmeidig wie eine Raubkatze folgte, zum Sprung ansetzte, auf seinem Rücken landete und ihn niederriss.
    Alles ging unsagbar schnell, und als sie endlich wieder atmen konnte, lag ein schwerer Körper über ihr, und für einen flüchtigen Augenblick drang der Duft von Roubens Haar in ihre Nase.

    original message
    from: jolin johansson
    to: anna 1993 @t-online.de
    subject:ach ja …
    wie ist eigentlich dein englischreferat ausgefallen? … hab ganz vergessen, dich danach zu fragen

    original message
    from: anna berger
    to: [email protected]
    subject:re: ach ja …
    nur 14 punkte ;-), aber damit bin ich natürlich auch voll zufrieden … das wichtigste ist sowieso , dass du diese schreckliche geschichte erst mal verdaust … ehrlich gesagt, nach allem, was du mir bisher erzählt hast, verstehe ich jetzt gar nichts mehr. wo kam rouben so plötzlich her? oder ist es sein bruder gewesen? ist er jetzt verrückt? wird man ihn einsperren? oh, ich hoffe so sehr, dass es nicht rouben ist … wäre es da nicht besser, er wäre zu den vampiren gegangen …?

    original message
    from: jolin johansson
    to: anna 1993 @t-online.de
    subject:re: ach ja …
    er ist zu den vampiren gegangen, anna, ich werde dir alles erklären … bald … ich brauche nur ein bisschen zeit für mich, ich kann im augenblick nicht darüber reden.

16
    Burg Horsteck im Dezember
     
    Meine Söhne,
    einer von Euch wird nun diesen Brief in seinen Händen halten und endlich die Gewissheit haben, dass sich das Schicksal zu seinen Gunsten erfüllt hat. Hinter Euch liegt eine unruhige, irritierende Zeit, in der Ihr in Ungewissheit existieren musstet, in der sich alles verschob, was Euch vertraut war, nicht alles gelang, was Ihr plantet, und Ihr einander immer ähnlicher wurdet, bis Ihr kaum noch voneinander zu unterscheiden wart.
    Viele Menschen wurden in die Sache hineingezogen, ihr Blut, ihr Verstand oder sogar ihr Leben beschädigt. Manches davon wird wieder ins Reine kommen, anderes nicht, es hängt ganz davon ab, wer von Euch beiden am Ende sein Ziel erreicht.
    Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, wem ich das seelenvolle Dasein wünsche und wem das unsterbliche, aber natürlich werde ich mich an die Regeln halten, die durch die dunkle Welt, der auch ich entstamme, vorgegeben sind.
    Morgen, in der Vollmondnacht der Wintersonnenwende, werde ich mich aus der jetzigen Form meiner Existenz verabschieden und eine andere annehmen.
    Ich gehöre nicht mehr in Deine Welt, Vincent, die mich hasst und verfolgt, und in Deiner, Rouben, kann ich ohne Harro und seine Liebe nicht sein.
    Also werde ich den Tod eines Vampirs suchen und mich im Licht der Sonne zu Staub zerfallen lassen, aber ich werde nie ganz vergehen, denn die Liebe, die ich in meinem