Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
verschwunden, dass wenigstens seine Liebe groß genug gewesen und er deshalb immer noch irgendwie da und irgendwie glücklich war, wäre ein Trost für sie gewesen, etwas, an dem sie sich hätte festhalten können …
Neumond fiel auch in diesem Monat auf einen 30. und wieder war es ein klarer, frühsommerlich warmer Tag. Das Thermometer kletterte am Nachmittag auf über sechsundzwanzig Grad, in den Straßencafés saßen bis in den Abend hinein noch Gäste, Menschen bummelten an den Schaufenstern entlang, die ganze Stadt flirrte nur so vor Leben.
Und so war es auch um kurz nach halb zehn noch, als Jolin den Hauptbahnhof verließ und die Straßenbahnhaltestellen ansteuerte. Wie gewohnt bestieg sie die Linie 654, die zum östlichen Stadtrand hinausfuhr.
In der Siedlung hatte sich in den letzten vier Wochen eine Menge verändert. Die Renovierungs- und Verschönerungsarbeiten dauerten noch immer an, einige Fassaden waren aber schon richtig herausgeputzt, es gab Blumenkästen, Fahrradständer, einen Kinderhort und einen Jugendclub. Die Bewohner schienen zusammenzuwachsen, sie halfen sich gegenseitig, veranstalteten kleine Feiern und hatten einen festen Vertreterstab gewählt, der mit Behörden verhandelte und den Kontakt zu den engagierten, wohlhabenden Bürgern und spendenfreudigen Handwerksbetrieben aufrechterhielt. Anna, Leo und Jolin hatten für ihr Projekt die volle Punktzahl bekommen, in der Schule gab es eine Ausstellung dazu, und immer wieder konnte man im Regionalteil der Tageszeitung etwas darüber lesen. Jolin freute sich vor allem für die Menschen, die hier lebten, über das Resultat.
Nachdem sie die Bahn verlassen hatte, wechselte sie die Straßenseite und hielt auf den Garagenplatz zu, an dessen Ende es inzwischen einen breiten Durchgang zur Containersiedlung gab. Den roten Alfa bemerkte sie erst, als sie schon fast daran vorbeigelaufen war.
Ihr Herzschlag setzte aus, und ein schmerzhafter Druck legte sich auf ihre Brust. War das jetzt etwa das Zeichen, auf das sie die ganze Zeit gewartet hatte? Unsinn, sagte sie sich und lief kopfschüttelnd weiter. Ganz sicher gab es nicht nur diesen einen roten Alfa 147 in dieser Stadt, und wenn doch, dann hatte ihn eben zufällig ein Bewohner dieser Gegend erworben. Eigentlich gehörte ja jetzt alles Vincent, und der hatte sicher jemanden, der all diese Dinge für ihn regelte.
Jolin hörte eine Autotür schlagen, dann waren Schritte hinter ihr, sie verzögerte ihr Tempo und blieb schließlich nochmals stehen. Ihr Herz raste, und sie konnte kaum noch atmen. Langsam drehte sie sich um.
Seine Haare waren ein wenig nachgewachsen, der Pony fiel ihm seitlich in die Stirn, seine Augen leuchteten in warmem Karamell, und auf seinen Lippen lag ein zaghaftes Lächeln.
»Jolin«, sagte er, einfach nur »Jolin«.
In diesem Augenblick zu sterben, das wäre das schönste Geschenk gewesen, das man ihr hätte machen können, – zumindest, wenn dieses Bild sie im Traum überrascht hätte.
Dass es Realität war, begriff Jolin erst, als das Bild sich nicht ändern wollte, sie nicht plötzlich aufwachte und mit verheultem Gesicht im Bett saß, sondern auch eine Ewigkeit später noch auf dem Bürgersteig stand, Rouben nur ein paar Armlängen von ihr entfernt und so schön, so unvorstellbar schön, dass er eigentlich nur ein Traum sein konnte.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte dich nicht so lange warten lassen, aber ich habe die Zeit einfach gebraucht.«
Jolin keuchte. Tränen schossen ihr in die Augen, sie wollte auf ihn zugehen, aber sie war nicht in der Lage, sich zu rühren.
»Hey«, sagte Rouben leise. »Hey.« Er streckte seine Hand aus, und nur einen Lidschlag später spürte Jolin bereits seine warmen Finger auf ihrer Wange. »Nicht weinen. Bitte nicht weinen.«
Sanft schlang er seine Arme um sie und küsste ihr die Tränen aus dem Gesicht.
Jolin spürte, wie der Boden unter ihr nachgab und sie mit sich nahm, doch dann sah sie die Bernsteinsonne um Roubens Pupillen, sie roch seinen Duft, und sie spürte seine Wärme. Und auf einmal war ihre Angst übermächtig. »Wenn du nicht wahr bist, wenn ich mir das alles nur einbilde, wenn du gleich zu Staub zerfällst …«
»Nichts dergleichen werde ich tun«, fiel er ihr ins Wort. »Seitdem ich weiß, dass du existierst, bin ich jede Sekunde bei dir gewesen, auch wenn du mich manchmal nicht sehen, vielleicht nicht einmal spüren konntest – aber ich war immer da.«
»Gut«, krächzte Jolin. »Gut.« Und dann
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