Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
Herzen trage, wird unsterblich sein.
Allein diese Liebe gestattet es mir, das Wesen zu schützen, das am Ende über Euer Schicksal entscheiden wird.
Vincent, Dir möchte ich sagen, dass Du in meinen Augen weder das Haus noch mein Vermögen oder gar Jolin verdient hast, denn selbst wenn es Dir gelingt, die Prophezeiung zu erfüllen, wirst Du niemals eine reine Seele haben. Du bist egoistisch, berechnend und ungestüm, und ich fürchte, Du wirst auch Deine Ungeduld nicht im Griff haben …
Rouben, das Haus ist wie geschaffen für Dich, es mag aber sein, dass sich Umstände ergeben, die es Dir unmöglich machen, dort auf Dauer zu leben. Ich hoffe, dass Du in diesem Fall eine weise Entscheidung treffen wirst, was damit geschehen soll, denn ich werde für alle Zeiten an diesen Ort gebunden bleiben.
Was das bedeutet, kannst nur Du ermessen, und ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass Jolins Liebe stark genug ist, um all diese Prüfungen zu überstehen. Sie ist das Einzige, das Dich retten kann. Denn nur, wenn sie wirklich rein ist, wird Jolin die Wahrheit erkennen und Deine Seele von der Deines Bruders unterscheiden können.
Doch ganz egal, in welche Welt das Schicksal Dich entlässt, auf Grund Deiner Herkunft und Deiner Begegnung mit der größten aller menschlichen Emotionen wirst Du immer ein Wesen von besonderer Gabe sein.
Meine Liebe, meine Söhne, sie gehört Euch beiden.
Eure Mutter Ramalia
Ich falte den Brief zusammen, halte ihn über die Flamme des Feuerzeugs und sehe zu, wie er in der Glasschale zu Asche verbrennt.
»Ich wünsche Ihnen viel Glück mit Ihrem neuen Projekt«, sagt der Mann hinter dem Schreibtisch.
Sein Name ist Rebels, er ist Rechtsanwalt und Notar. Bei ihm hat Ramalia ihren Abschiedsbrief hinterlegt, und es wird wohl kein Zufall sein, dass auch von ihm die Kaufverträge besiegelt wurden. Nun erhebt er sich, rückt den Knoten seiner Krawatte zurecht und streicht beiläufig mit dem Daumen unter dem Reverskragen entlang, bevor er mir mit freundlich distanziertem Nicken die Hand reicht.
»Auf Wiedersehen«, sage ich.
Ich wende mich der Tür zu und verlasse das Büro des Notars. Es ist Ende Mai, acht Stunden vor Neumond und damit höchste Zeit, endlich in mein neues Leben einzutauchen.
Jolin hatte versucht, ihren eigenen Weg zu finden, um mit allem fertig zu werden. Inzwischen war sie zu der Überzeugung gekommen, es nicht anders verdient zu haben. Sie hatte versagt, hatte die Verwandlung der Brüder und Vincents Trick nicht durchschaut, ihre Liebe zu Rouben war einfach nicht stark genug gewesen. Sein Tod war ihre Schuld. Und deshalb war von ihm nicht mehr übrig geblieben als von Ramalia: ein bisschen Glitzerstaub, verteilt zwischen den Buchsbaumhecken, den Johannisbeersträuchern und Blütenstauden in der Containersiedlung. Das zumindest war ihr Bild der Geschichte – die Realität sah ein bisschen anders aus.
Tatsächlich hatte Jolin dort nicht ein einziges winziges Glitzerkorn gefunden, weder auf den Blättern der Pflanzen noch zwischen den Steinen auf dem trockenen Boden. Nahezu täglich war sie spätabends, manchmal sogar noch nachts in die Siedlung gefahren, bei bedecktem und bei sternenklarem Himmel, bei Vollmond und bei Halbmond, doch nie hatte sich Rouben ihr in irgendeiner Weise gezeigt.
Während Vincent zu einem für seine Umgebung völlig ungefährlichen Menschen geworden war und nun schon seit fast vier Wochen in der geschlossenen Abteilung der Städtischen Landesklinik auf das Gutachten seiner Psychologen wartete, schien es so, als ob es Rouben nie gegeben hätte.
Jolin hatte Anna inzwischen die Wahrheit erzählt, Paula und Gunnar hingegen lebten in dem Glauben, dass Rouben ihre Tochter verlassen hatte und in eine andere Stadt gezogen war. Für sie war die Welt wieder in Ordnung.
Für Jolin würde sie das nie mehr sein.
Ohne Rouben konnte sie weder leben noch sterben, und fürs Erste hatte sie sich damit arrangiert, weder das eine noch das andere zu tun. Immerhin hatte sie Anna, Paula und Gunnar versprochen, sich nicht hängenzulassen, auf die Zeit zu setzen und zu hoffen, dass die Wunden, die sein Verlust hinterlassen hatte, zumindest oberflächlich heilten. Vergessen würde sie Rouben nie, und ob sie sich ihren tödlichen Irrtum jemals verzeihen würde – diese Frage hätte sie sich nicht einmal selber beantworten können.
Worauf Jolin auch einen Monat nach diesem traumatischen Ereignis immer noch hoffte, war ein Zeichen. Das Wissen, dass er noch nicht ganz
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