Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
durch und steuerte die Rolltreppe an.
»Vielleicht sieht er dir ja zu«, wisperte Anna hinter ihr. »Ich meine, eigentlich ist er ja nicht tot, sondern nur in einer anderen Welt … oder?«
Jolin schluckte. Sie schloss die Augen, drängte die Tränen zurück und dachte: Dich werde ich auf jeden Fall ganz schrecklich vermissen.
Bis zum frühen Nachmittag kletterten die Temperaturen auf knapp zwanzig Grad. Jolin hatte ihre Wickeljacke ausgezogen, um ihre Hüften geknotet und die Ärmel ihres T-Shirts bis über die Ellenbogen aufgekrempelt.
Glücklicherweise hatte Anna daran gedacht, ein paar alte Küchenschürzen und Gummihandschuhe mitzubringen, die ihre Klamotten und Hände vor Erd- und Acrylfarbflecken schützten.
Beim Anblick von Harro Greims’ verlassenem Container hatte sich Jolin der Magen zusammengekrampft, und die erste halbe Stunde hatte sie einen großen Bogen um ihn gemacht, doch schließlich hatte Anna ihr einen Topf mit gelber Farbe und eine Schwammrolle in die Hand gedrückt und gesagt: »Das wäre doch der optimale Grundton, oder findest du nicht?«
Jolin hatte genickt, und dann hatten sie schweigend mit der Rückseite begonnen. Das monotone Auf und Ab und Hin und Her der Rolle und das warme leuchtende Gelb des Lacks hatten den Druck von ihrem Magen genommen. Und mit jedem weiteren frischen Farbklecks, jeder Blume und jedem Schmetterling, den sie malte, lösten sich auch Wut und Schuldgefühl allmählich auf und ließen eine stille Traurigkeit, aber auch ein Gefühl von dankbarer Erinnerung zurück. Eine ganze Weile war Jolin so sehr in sich versunken, dass sie gar nicht mitbekam, wie das Gelände sich allmählich füllte und eine Vielzahl von Helfern Zäune und Hecken setzten, Kübel bepflanzten, einen Gemeinschaftsplatz mit einem großen runden Holztisch und grob gezimmerten Bänken drum herum anlegten und sogar zusätzliche Fenster in einzelne Container einbauten.
Erst ihre Mutter, die plötzlich hinter ihr stand und ihr sachte eine Hand auf die Schulter legte, holte Jolin ins Hier und Jetzt zurück.
»Nicht erschrecken«, sagte Paula leise an ihrem Ohr.
»Oh, Ma!« Jolin ließ den Pinsel sinken und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Wie schön, dass du da bist.« Sie schob sich mit dem Handrücken eine Strähne aus dem Gesicht und blinzelte gegen das Sonnenlicht über das Gelände. »Wo ist denn Gunnar?«
»Der steht da vorne mit deinem Lehrer und dem Bürgermeister zusammen. Leonhart und Anna sind auch schon dort, und ich habe die ehrenvolle Aufgabe, dich ebenfalls dazuzuholen.« Paula hob einen der unzähligen alten Lappen auf, die überall herumlagen, und reichte ihn lächelnd ihrer Tochter. »Aber zuerst solltest du dir ein wenig die Hände abwischen.«
»Äh … ja …« Jolin hob verwundert die Augenbrauen. Sie nahm den Lappen und rieb über die noch feuchten Farbflecken an ihren Fingern. »Warum?«
Paula schüttelte lachend den Kopf. »Kannst du dir das nicht denken?«
»Ähm … nein … also … na jaaa …« Natürlich konnte Jolin das, aber abgesehen davon, dass sie ohnehin ganz andere Dinge im Kopf hatte, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, dass diese von Anna, Leo und ihr ins Leben gerufene Aktion ihr über das gewünschte Ziel hinaus auch noch persönliche Anerkennung bringen würde. Und jetzt war die Freude plötzlich da. Sie hatten tatsächlich mehr erreicht, als sie je zu träumen gewagt hatten.
»Ich glaube, das reicht.« Paula Johansson nahm ihrer Tochter den Lappen ab und legte ihr den Arm um den Hals. »Die Leute dürfen dir ruhig ansehen, dass du dich hier auf allen Ebenen engagierst.«
»Maaa …« Jolins Stimmung kippte von einem Atemzug auf den anderen. Plötzlich war ihr alles zu viel. Die Nähe ihrer Mutter, der Rummel, der um sie und diese Aktion gemacht wurde, einfach alles. Sie wollte nicht neben dem Bürgermeister stehen, sie wollte nicht von allen möglichen Leuten angestarrt werden, sie wollte einfach nicht der Mittelpunkt sein, das war noch nie ihr Ding gewesen, und heute, an diesem speziellen Tag, erst recht nicht.
Doch Paula lachte nur und zog sie mit sich durch das Gewimmel von Leuten und tobenden Kindern hindurch auf den Gemeinschaftsplatz zu.
Gunnar, ihr Wipo-Lehrer Herr Behlscheid und ein Mann, den Jolin nur von Fotos aus der Zeitung kannte und bei dem es sich wohl um den Bürgermeister handelte, waren auf den Tisch geklettert, und Leo war gerade dabei, Anna ebenfalls hinaufzuhelfen.
Der Bürgermeister hielt ein Mikro in
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