Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
können. Ebenso wenig wie ich.«
Die Stille, die mit Jolins Entschluss gekommen war, blieb, sie füllte ihr Gemüt mit einer friedvollen Fröhlichkeit und schien sich auch auf ihre Eltern zu übertragen, jedenfalls entspannte sich die Stimmung – besonders zwischen Jolin und ihrer Mutter – merklich. Paula erwähnte Rouben oder den Mord in der Containersiedlung mit keinem Wort mehr, ein einziges Mal beobachtete Jolin allerdings spät am Abend zwei Polizeibeamte vor ihrem Haus, die jedoch offenbar nichts Verdächtiges fanden. Und für Jolin spielte der Umstand, dass Vincent jede Nacht dort unten herumlungerte, keine große Rolle mehr.
Das Wissen darum, dass ihre Zeit abgelaufen war, einte sie auf eine neue, fast schon mystische Weise mit Rouben, und es veränderte ihren Blick auf alle Dinge.
Jolin zählte die Tage nicht nur, sie empfand und lebte sie auch intensiver als all die Jahre zuvor, die bereits hinter ihr lagen. Sie genoss jede einzelne Sekunde, die sie mit Anna verbrachte, bei ihr hatte sie anders als ihren Eltern gegenüber kein schlechtes Gewissen. Wenn sie mit Paula und Gunnar beisammenhockte, wenn sie in der kleinen Küche saßen und aßen, gemeinsam Fernsehen schauten oder diskutierten, war Jolin stets davon erfüllt, dass es das letzte Mal sein könnte. Sie bemühte sich um Offenheit und Unbeschwertheit, und sie spürte, dass sie insbesondere ihrer Mutter damit eine große Portion Vertrauen zurückgab, aber gleichzeitig empfand sie ihr eigenes Verhalten auch als Betrug.
Jolin wusste , dass sie ihre Eltern am 30. April für immer verlassen würde, sie hatte ausreichend Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten, für Paula und Gunnar dagegen würde dieser Verlust ein absoluter Schock sein, und Jolin konnte nur hoffen, dass der Brief, den sie ihnen hinterließ, sie wenigstens ein bisschen trösten würde. Sie war ja nicht tot, sondern bloß in einer anderen Welt. Anna würde das verstehen und ihre Eltern hoffentlich auch.
Und dann kam der ersehnte Neumondtag schneller, als sie dachte. Schon der frühe Morgen gab sich verheißungsvoll. Ein klarer blauer Himmel spannte sich über die Dächer der Häuser, Sonnenstrahlen tanzten über das Pflaster, und ein milder Wind versprach einen warmen Frühlingstag.
Jolin trank ihre letzte heiße Milch zum Frühstück, räumte ihr Zimmer ein letztes Mal auf, ordnete Kleidung und Schulunterlagen und breitete die geliebte Quiltdecke über ihr Bett. Sie nahm ihr letztes Bad, föhnte ein letztes Mal ihre Haare, cremte ihre Haut mit dem Rest der Moringa Body Butter aus dem Bodyshop ein und entschied sich für diesen letzten Tag in diesem Leben für ihre Lieblingsjeans, ein dunkelblaues T-Shirt und eine hauchzarte türkisfarbene Wickeljacke, die an der Ausschnittkante einen kleinen Volant hatte und die sie sich einige Tage zuvor bei ihrem letzten Einkaufsbummel mit Anna gekauft hatte.
Die Freundin stand um kurz vor halb zwölf vor der Haustür, um sie abzuholen. Jolin schulterte ihre Tasche und ließ den Blick ein letztes Mal über ihr Bett, den Schreibtisch, das Regal mit ihren Büchern, das Fenster mit dem Stuhl davor und den Kleiderschrank gleiten, dann schloss sie leise die Zimmertür.
Der Abschied von Paula und Gunnar hatte noch Zeit, die beiden würden am Nachmittag in die Containersiedlung kommen und beim Anpflanzen helfen. Irgendwann am Abend, sobald die Aktion ihren Höhepunkt erreichte und die ersten Leute die Siedlung verließen, würde Jolin eine Gelegenheit suchen und sich unbemerkt davonstehlen. Ihre Vorstellung lag irgendwo in Richtung Friedhof, eventuell würde sie ein Taxi nehmen und nach Lienenthal hinausfahren, der Ort spielte im Grunde keine Rolle, solange er nur einsam genug war und niemand sie beobachtete.
Darüber, ob Rouben sie finden würde, brauchte sie sich jedenfalls keine Gedanken zu machen. Sobald die Dämmerung hereinbrach, würden er und sein verdammter Bruder die Witterung aufnehmen und sich an ihre Fersen heften.
»Was ist los?«, fragte Anna. »Worüber denkst du nach?«
»Ach … nix.« Jolin schüttelte unwillig den Kopf. »Es ist nur …«
»Die Erinnerung an früher, an diesen alten Mann aus der Siedlung, stimmt’s?« Sie hatten mittlerweile die U-Bahn-Station erreicht, Anna war stehen geblieben und sah Jolin mitfühlend an. »Und an die Frau … Chantal Pielicz und an …«
»Rouben«, sagte Jolin zärtlich.
»Ja.« Anna nickte. »Du vermisst ihn bestimmt schrecklich.«
Jolin antwortete nicht, sondern atmete tief
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