Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
wiederhole ich. Was ist schon dabei?«
»Nichts«, murmelte Gunnar Johansson. »Außer, dass du noch ein Jahr länger die Schulbank drücken musst und dich später vielleicht doch darüber ärgerst.«
Jolin seufzte. Sie hatte sich auf dem Bett ausgestreckt und die Hände unter dem Kopf verschränkt. Es war ein Genuss, wieder so liegen zu können, ohne dass etwas schmerzte und drückte.
»Vielleicht möchtest du dein Abi ja auch mit Rouben zusammen machen«, hörte sie ihren Vater sagen.
Jolin seufzte noch einmal. »Okay. Du hast gewonnen.« Zehn Sekunden später hockte sie zu Gunnars Füßen am Boden und blätterte ebenfalls in ihren Unterlagen herum. »Hältst du mich eigentlich für unemanzipiert?«, fragte sie.
Ihr Vater sah sie überrascht an. »Auf so eine Idee käme ich gar nicht«, sagte er empört.
»Ich mein ja nur … wenn ich alles, was ich tue, plötzlich so sehr von Rouben abhängig mache.«
»Das finde ich eher normal. Oder besser gesagt: Ich fände es eher seltsam, wenn es nicht so wäre.« Er zwinkerte seiner Tochter zu. »Weißt du, so wie diese ganzen verbohrten Biofanatiker, die nichts anrühren, was nicht tausendprozentig öko ist, und gleich tot umfallen, wenn sie aus Versehen mal einen gespritzten Apfel essen.«
Auf Jolins Stirn bildete sich eine Steilfalte. »Du meinst, es ist besser, Fehler zuzulassen, als sie krampfhaft zu vermeiden?«
Ihr Vater machte eine bestätigende Geste. »Schau mal hier«, sagte er und hielt Jolin einen Zettel voller Wahrscheinlichkeitsrechnungen unter die Nase. »Das ist wirklich interessant.«
»Hältst du es für einen Fehler, dass ich mit Rouben zusammen bin?«, fragte Jolin ehrlich überrascht.
Gunnar sah sie über den Rand seiner Brille hinweg an. »Nein«, sagte er. »Natürlich nicht. Eigentlich gibt es keine Fehler«, fügte er hinzu. Sein Blick driftete von ihr weg. Nachdenklich strich er sich über den Bart. »In Maschinen, Computern, technischen Anlagen ja, aber nicht im menschlichen Leben.«
»Das stimmt nicht, Pa«, widersprach Jolin. »Alles, was man tut, hat Konsequenzen. Man muss sich ständig entscheiden, und diese Entscheidungen können immer falsch sein.«
Gunnar wandte sich wieder ihr zu. »Genau das sehe ich anders«, sagte er. »Eine Entscheidung hat Konsequenzen, ja, aber sie ist niemals falsch.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst«, entgegnete Jolin empört. »Wenn ich nicht den Entschluss gefasst hätte, Klarisse zu helfen …«
»Sag ruhig zu retten …«, fügte ihr Vater ein.
»… wäre sie jetzt tot.«
»Ja oder schwer verletzt.«
Oder ein Vampir, dachte Jolin, und ein leises Schaudern lief ihr den Rücken hinunter.
»Stattdessen bist du verletzt gewesen«, betonte Gunnar.
»Das ist mir allemal lieber so«, sagte Jolin.
Ihr Vater nickte. »Ich nehme an, Klarisse geht es genauso.«
»Siehst du!« Über Jolins Gesicht huschte ein triumphierendes Grinsen. »Es war also die richtige Entscheidung.«
»Das kann man nie wissen«, erwiderte Gunnar Johansson. »Ich zum Beispiel glaube, dass es immer eine Gegenseite gibt, eine, der ein Nachteil aus einer vermeintlich richtigen Entscheidung erwächst. Diese Gegenseite muss für den Handelnden – in diesem Falle dich – nicht unbedingt klar erkennbar sein. Vielleicht sind es Personen, die in einer Art Parallelwelt leben …«
»An so etwas glaubst du?«, warf Jolin ein. Sie war über alle Maßen erstaunt. Ihr Vater war weltoffen, okay, aber eine spirituelle Neigung hatte sie bei ihm bisher nicht erkennen können.
»Mit glauben hat das wenig zu tun«, entgegnete er. »Wir alle wissen inzwischen, dass unsere Sinne nicht ausreichen, um alles Existente wahrzunehmen. Das heißt aber nicht, dass es diese Dinge nicht gibt. Und noch viel mehr darüber hinaus, nämlich jenseits dessen, was wir uns anhand unseres derzeitigen Kenntnisstands vorzustellen vermögen.«
Jolin verzog das Gesicht. »Das klingt ein wenig kompliziert.«
»Es geht auch einfacher«, meinte ihr Vater. »In Klarisses Fall brauchen wir uns nur vorzustellen, dass sie vielleicht einen Organspendeausweis mit sich trägt und dass ihr Herz, ihre Nieren, ihre Lunge oder ihre Leber einem oder mehreren anderen das Leben erleichtert oder gerettet hätte. Womöglich wären es vier Leben für eines gewesen.«
»Hör auf, Pa!« Jolin presste sich die Hände auf ihre Ohren. »Ich will das nicht hören!«
Sie hatte verstanden, was er ihr klarzumachen versuchte, weiter darüber nachdenken wollte sie aber nicht.
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