Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
mich von Jolin zu verabschieden. Am liebsten wäre ich die ganze Nacht über bei ihr geblieben, aber das hätte Paulas guten Willen mit Sicherheit überstrapaziert.
Ihr Verhältnis zu Jolin hat sich seit dem »Unfall« auf der Burg vollkommen verändert, fast könnte man sagen, dass alles anders geworden ist. Der einzige unverrückbare Fels in der Brandung ist und bleibt Gunnar, ihr Vater. Er ist einfach da, wertfrei, voller Vertrauen und ohne Ansprüche. Er ist genau das, was Jolin jetzt braucht. Und mich natürlich.
Ich parke den Alfa wie gewohnt einen knappen Meter von der Pforte entfernt. Der Himmel über mir ist klar und voller Sterne, die Luft kühl, aber nicht mehr frostig.
Das ändert sich allerdings schlagartig, als ich die Pforte öffne und den Plattenweg betrete. Irritiert bleibe ich stehen. Vielleicht ist es nur ein Luftzug gewesen, überlege ich, eine Böe, die sich in den alten Obstbäumen verfangen und einen kalten Wirbel verursacht hat.
Ich schiebe die Unterlippe vor und hauche einen Stoß Atemluft aus. Sofort bildet sich feiner Nebel vor meinem Gesicht. Mein erster Reflex ist, mich umzudrehen und zurückzufahren. Ich könnte auf dem Sitz im Alfa übernachten, unmittelbar vor Jolins Haustür. Am nächsten Morgen würde ich sie dann alle mit frischen warmen Brötchen überraschen. Damit könnte ich vielleicht sogar Paula noch ein wenig mehr für mich einnehmen.
Die Verlockung ist groß, aber ich will kein Feigling sein. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich Jolin vorhin schließlich selber noch gesagt, dass sie zu viele Gedanken an das Vergangene verschwendet, dass ihre Nerven ihr einen Streich spielen. Wieso sollte es diesbezüglich bei mir eigentlich anders sein? Meine menschlichen Nerven arbeiten erst seit ein paar Wochen, ich habe viel weniger Übung darin, Reales von Irrealem zu unterscheiden, als sie.
Dies ist mein Haus, das Haus, in dem ich schon sehr bald mit Jolin leben will. Ich werde nicht zulassen, dass es von absurden Befürchtungen und dunklen Gedanken in Besitz genommen wird.
Entschlossen drücke ich die Pforte hinter mir zu. Ich schalte meine Taschenlampe ein und laufe hinter ihrem Lichtkegel her zum Haus hinüber. Morgen kommen die Fenster, danach ist die Elektrik dran. Und die Heizungsanlage. Es gibt noch eine Menge zu tun. Das wird mich ablenken und meine Gedanken ordnen.
Voller Elan werfe ich mich in meine Arbeitsklamotten und verputze die Wände des Treppenflurs unter dem Dach.
Als ich um kurz nach Mitternacht ins Bett falle, bin ich zum ersten Mal wirklich müde. Ich sinke in einen tiefen, bleischweren Schlaf und träume von meinem Bruder.
Das Wochenende verbrachte Jolin damit, sich auf die Schule vorzubereiten. In einem Anfall von Torschlusspanik arbeitete sie sich nun doch durch sämtliche Unterlagen. Alle halbe Stunde rief sie Anna an, weil sie Sachverhalte oder Aufgabenstellungen nicht verstand, und fluchte einmal mehr darüber, dass Rouben so viel Zeit in seinem Haus verbrachte, anstatt mit ihr zu lernen.
»Auf die Idee, dass ich dir vielleicht auch helfen könnte, kommst du wohl nicht?«, meinte Gunnar Johansson, als sie wieder einmal stöhnend das Telefon in die Station zurückgestellt hatte und mit einem Stapel loser Zettel in ihr Zimmer zurückeilen wollte.
»Ach, Pa.« Jolin seufzte. »Hast du wirklich nichts Besseres zu tun?«
»Doch.« Gunnar lächelte seine Tochter entwaffnend an. »Aber nichts Sinnvolleres.« Er legte seine Hand auf ihren Rücken und schob sie sanft in ihr Zimmer. »Vielleicht solltest du dich einen Moment hinlegen«, schlug er vor. »Ich sehe mir derweil schon mal die Aufgaben an.«
»Pa, da geht es um Sinus und Cosinus, um Logarithmen und Stochastik …«
»Stochastik? Na, das ist doch wunderbar!«, freute sich Gunnar. »Zeig her!«
»Mach dir keine Illusionen«, erwiderte Jolin. »In der Elften fand ich es auch noch toll. Damals war der ganze Kurs wie besessen davon, die Lotterie mit den besten Gewinnchancen zu ermitteln. Die meisten verplanten schon ihre ersten Millionen. Am Ende haben sie doch nur ihr Taschengeld versenkt. Und jetzt im zwölften Jahrgang ist Stochastik völlig Banane. Es hat nichts, aber auch gar nichts mit der Realität zu tun.«
»Das ist ja das Entspannende daran«, meinte ihr Vater. »Findest du nicht?« Er hatte sich inzwischen an ihrem über und über mit Büchern, Heften und Infoblättern übersäten Schreibtisch niedergelassen und sich in Jolins Zettelwirtschaft vertieft.
»Pa, vergiss es. Notfalls
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