Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
dort lagen neben der Lampe nur das Wipobuch und ein Päckchen Papiertaschentücher. Der Wecker musste heruntergefallen sein. Sie wollte sich gerade bücken und unter dem Bett nachsehen, da quietschte Anna ihr ins Ohr. »Oh, du hast bei Rouben übernachtet!«
»Hab ich nicht«, erwiderte Jolin. »Von wo aus rufst du eigentlich an?«
»Aus der Schule natürlich. In fünfeinhalb Minuten beginnt die dritte Stunde. Aber mach dir nichts draus. Rouben und Klarisse sind auch nicht da.«
Rouben und Klarisse …?
»Ich hab tatsächlich verschlafen«, murmelte Jolin. »Das ist mir noch nie passiert.«
»Ja, du bist in der Tat kaum wiederzuerkennen«, bestätigte Anna. »Ich hoffe, es hat sich wenigstens gelohnt.«
»Was?«, fragte Jolin verwundert. Sie war inzwischen aufgestanden und sammelte nun wahllos ein paar herumliegende Klamotten auf.
»Na, was wohl!«
»Erzähl ich dir später«, sagte Jolin. »Ich muss mich jetzt sputen, damit ich es wenigstens noch zur Vierten schaffe.« Sie würgte Annas Stöhnen ab, indem sie die Verbindung unterbrach und das Handy in ihre Tasche steckte. Dann eilte sie in fliegender Hast ins Bad und zehn Minuten später ebenso schnell aus dem Haus.
Der Alfa war verschwunden, und wieder einmal zwang sich Jolin, dem keine Bedeutung beizumessen. Sie spürte, dass Rouben bei ihr war – irgendwie , insofern hatte sich die Fahrt zu seinem Haus sogar tatsächlich gelohnt , aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie es nun weitergehen würde, und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch gar nicht so genau wissen. Besser war es zu hoffen, dass sie sich irrte, die falschen Schlüsse gezogen hatte und es viel weniger dramatisch um Rouben stand, als sie befürchtete.
Jetzt galt es, nach vorn zu sehen und den Tag rumzubringen. Jolin musste sich Antworten für die zu erwartenden bohrenden Fragen von Anna überlegen, vor allem aber musste sie eine Möglichkeit finden, sich abzulenken, damit ihre Gedanken nicht ständig nur um Rouben kreisten. Denn das würde sie zweifellos schon sehr bald völlig um den Verstand bringen.
Jolin erreichte die U-Bahn-Station und stürmte die Treppe zum Bahnsteig hinunter. Auf der Anzeigentafel wurde ihr Zug in zwei Minuten angekündigt, und so zwängte sie sich hastig an den Wartenden vorbei, um möglichst weit vorn einsteigen zu können.
Die Lautsprecherstimme ertönte, und die Leute drängten auf den weißen Markierungsstreifen zu. Jolin rannte noch ein Stück weiter, sie wusste so ungefähr, wo die Bahn halten würde, und stieß beinahe mit Klarisse zusammen, die urplötzlich hinter einer Anzeigentafel hervorkam.
»Ooops, was machst du denn hier?«, platzte sie he- raus.
»Ich schätze, dasselbe wie du«, erwiderte Klarisse. Sie sah blass aus, und ihre Stimme klang müde.
»Gut, dann sind wir wenigstens zu zweit«, versuchte Jolin zu scherzen, aber ihre Stufenkameradin schien nicht in der richtigen Stimmung zu sein.
»Ich habe ein Attest«, sagte sie. »Du auch?«
»Nein, stell dir vor, ich habe verpennt.« Jolin hob die Schultern. »Das erste Mal in meinem Leben.«
»Wow, darauf kannst du echt stolz sein«, sagte Klarisse und reckte den Daumen.
Jolin stieg hinter ihr in die Bahn und ließ sich ihr gegenüber auf einen freien Viererplatz fallen. Sie wusste nicht recht, wie sie den Kommentar einordnen sollte. »Und du hast schon lange nicht mehr so spöttisch geklungen«, sagte sie geradeheraus.
Klarisse hob die Augenbrauen. »Ach, jetzt tu doch nicht so harmlos, du kannst das schließlich auch ganz gut.«
Jolin seufzte. »Ich dachte, wir wären Freunde.«
Klarisse sah sie kurz an und richtete ihren Blick dann zum Fenster.
»Elektrokabel, Betonpfeiler, Lichtreflexe, Spiegelbilder«, zählte Jolin auf. »Findest du das alles interessanter, als dich mit mir zu unterhalten?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Klarisse und starrte weiter aus dem Fenster. »Es ist nur so, dass …« Sie brach ab, und Jolin sah, wie sich die Finger an ihren beiden Händen zur Faust ballten.
»Dein Date nicht so abgelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast?«, fragte sie tastend.
Klarisse zuckte die Achseln. »Er ist überhaupt nicht gekommen.«
»Oh.«
»Ich hab mit nix anderem gerechnet«, erwiderte Klarisse betont lässig. »Weißt du, auf diese Typen, die ihre Klappe dermaßen aufreißen, kann man sowieso nichts geben.«
»Aber gehofft hast du trotzdem …?«
»Ja, verdammt! Ich blöde Kuh, habe mir eine geschlagene halbe Stunde vor unserer Haustür den Arsch
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