Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
Bad gleich nebenan und die gedämpfte Stimme der Nachrichtensprecherin aus dem Fernseher. Es musste nach acht Uhr sein. Ihre Eltern waren inzwischen heimgekommen, bestimmt würde sich der Duft von warmem Essen schon bald seinen Weg durch die Türritzen bahnen.
Tot sein – das war das, was Jolin wollte, das Einzige, was sie sich jetzt überhaupt noch vorstellen konnte. Besser tot als diesen Schmerz ertragen zu müssen, der sie von innen heraus in Stücke zu zerreißen drohte.
Aber vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung … Vielleicht war Vincents Macht geringer, als Rouben glaubte … Vielleicht war er einfach nur ein hervorragender Spieler, der die Skrupellosigkeit besaß, alles auf eine Karte zu setzen. Schließlich hatte er nichts zu verlieren. Rouben und Jolin hingegen alles! Aber dieses Alles durften sie nicht einfach aufgeben. Nicht, solange Jolin Rouben noch nicht völlig gleichgültig war. Jedes Gefühl von Liebe, und war es noch so fragil, konnte die eigene innere Kälte, die das Wesen eines Vampirs ausmachte, besiegen. Ramalia war der beste Beweis dafür, und Rouben als ihr Sohn mit einem menschlichen Vater sollte doch wohl erst recht dazu in der Lage sein. Er musste nur daran glauben!
Es war wie ein Ruck, der Jolin endgültig aus ihrer Lethargie riss. Sie spürte das Metallgehäuse des Handys in ihrer Hand, und einen Lidschlag später flogen ihre Finger bereits über die Tasten.
ramalia hat deinem vater nie etwas angetan
und du kannst dem durst auch widerstehen, da bin ich mir sicher.
bitte, rouben, versuch es. gib uns noch nicht auf!
ich liebe dich bis in alle ewigkeit.
jolin
Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hatte, fühlte sie sich besser. Jolin schaltete das Handy aus und legte es auf den Nachttisch. Sie wollte nicht auf eine Antwort warten, von der sie ohnehin nicht glaubte, dass sie sie erhielt, sie wollte jetzt nur noch nach vorn sehen. Und das hieß vor allem: sich auf gar keinen Fall etwas anmerken lassen.
Weder ihre Eltern oder Anna und Leo noch sonst jemand aus ihrem Umkreis durften den leisesten Verdacht schöpfen. Sie alle galt es davon zu überzeugen, dass es ihr gutging und mit Rouben und ihr alles in Ordnung war.
Bisher hatte er über sie gewacht, jetzt war es an ihr, ihn zu beschützen. Niemand durfte hinter sein schreckliches Geheimnis kommen, und Jolin würde alles, was in ihrer Macht stand, dafür tun, um zu verhindern, dass es jemals ans Tageslicht kam.
Am nächsten Tag klarte der Himmel auf, und am Samstagmorgen war es bereits um zehn Uhr so warm, dass Jolin sich ihres Pullis entledigte und nun nur noch ein T-Shirt unter ihrer Jeansjacke trug. Leos Vater hatte ihnen beim Aufbau des Standes geholfen, nach nicht einmal einer Dreiviertelstunde lag alles an seinem Platz. Der Himmel über ihnen war strahlend blau, und die Menschen strömten in Scharen aus der U-Bahn-Unterführung hervor und an ihnen vorbei auf die Einkaufspassage zu.
»Hoffentlich haben die heute überhaupt einen Kopf für so was«, sagte Anna, die wie ein Pingpongball hin- und hertitschte, die Tischdecken zurechtzupfte, die Stapel mit den Flyern immer wieder neu ordnete und die Plakate mal hierhin und mal dorthin ausrichtete. Seit langer Zeit trug sie ihre braunen Locken heute mal wieder aufgesteckt, ihre Augen leuchteten vor Aufregung, und ihre Wangen glühten in einem frischen Rosa. Jolin fand, dass sie einfach umwerfend aussah. Viel besser als sie selbst, die wieder einmal kaum geschlafen und deshalb eine fahle Gesichtshaut und tiefe, dunkle Schatten um die Lider hatte. Trotzdem schien Leo nur Augen für sie zu haben.
Bei jedem Handgriff, den Jolin tun wollte, sprang er ihr zur Seite. Wortlos nahm er ihr die Kartons mit den Reserveflyern ab, platzierte sie unter dem Tisch und öffnete sie, damit sie schnell Zugriff darauf hatten, sobald die Vorräte oben zur Neige gingen.
»Setz dich hin«, flüsterte er und deutete auf einen der Klappstühle. »Anna macht das schon. Die hat Energie für mehr als eine Mission.«
Jolin grinste schlapp. In der Tat schien die Freundin sich nicht darauf verlassen zu wollen, dass die Leute sich aus freien Stücken für ihr Anliegen interessierten.
»Das muss man ganz offensiv angehen«, verkündete Anna, als ihre Befürchtungen sich bestätigten und die Menschen mehr oder weniger achtlos an ihnen vorbeiliefen. Selbst diejenigen, die einen kurzen Blick auf die Plakate warfen, zogen es letztlich offenbar doch vor, sich um die schönen Dinge des Lebens zu
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