Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
war Rouben kühl und ohne Geruch gewesen, aber nicht völlig gefühllos. Vincent dagegen war so kalt wie der Tod und von einer Anziehungskraft, die Jolins Willen mühelos hätte brechen können. Sie fragte sich, warum er es eben im Keller nicht getan hatte. Er war berechnend, er musste wissen, dass sie ihm überallhin gefolgt wäre. Es hätte ihn ganz sicher keine Mühe gekostet, sie zu töten. Es sei denn, Rouben hatte ihn davon abgehalten! – Das zumindest wäre eine Erklärung dafür, dass sie diese Wärme – seine Wärme? Seine Liebe? – unter ihrem Brustbein gespürt hatte.
Für einen kurzen Moment breitete sich ein Gefühl von Scham in ihr aus und brannte wie ein heißes Feuer in ihrem Herzen. Ich will nicht, dass du dein Leben für mich riskierst, Rouben, dachte sie entschieden. Ich habe das nicht verdient.
Sie sah zum Fenster hinüber und trat in das sanfte Laternenlicht, das von draußen hereinfiel und ein spitzes Dreieck über die Wand und den Boden malte. Jolin legte ihre Stirn gegen die kalte Scheibe und blickte auf die Straße hinunter. Den roten Alfa konnte sie nirgends ausmachen, die Frage war ohnehin, ob Rouben ihn überhaupt noch in der Nähe ihres Hauses abstellte. Bestimmt wollte er verhindern, dass sie ihn bemerkte.
»Was passiert mit dir?«, flüsterte Jolin. Sie presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Im letzten Jahr war sie vielleicht noch naiv genug gewesen, um sich selbst etwas vorzumachen. Das war nun nicht mehr der Fall. Im Grunde wusste Jolin sehr genau, was mit Rouben passierte. Seine dunkle Familie gönnte ihm dieses endliche, menschliche Leben nicht.
Nach ihrem Besuch im Antiquariat Lechtewink war es nur eine Ahnung gewesen, die sie sich viel zu schnell und nur zu gern von Rouben hatte ausreden lassen, doch jetzt hatte sie Gewissheit: Vincent war tatsächlich zurückgekommen … um seinen Bruder zu quälen, ihn zu zwingen, Jolin vor ihm zu beschützen … und sie am Ende beide zu töten? Es war ein unfairer, ungleicher Kampf. Vampir gegen Mensch. Rouben hatte doch nur seine Liebe … Aber die war schließlich schon einmal stark genug gewesen … Jolin atmete tief ein. Ihre Lungen schmerzten höllisch, als wollten sie sich gegen das Leben wehren, das sie vor wenigen Minuten ein zweites Mal geschenkt bekommen hatte.
»Du kannst uns nichts anhaben, Vincent«, wisperte sie. »Du wirst unsere Liebe nicht zerstören. Es sei denn …« Wie in Großaufnahme flammte plötzlich das Bild von Roubens verbundenem Handgelenk vor ihr auf. Er hatte sich nicht mit einem Meißel verletzt … Nein, es musste Vincent gewesen sein! Natürlich! Jolin schloss die Augen. Ein eiskalter Schauer des Entsetzens raste ihr über die Haut. Warum nur hatte sie es nicht gleich erkannt? Es war doch so klar! Roubens neues menschliches Leben war um ein Vielfaches verletzlicher als ihres. Seine Liebe für sie, aber auch sein Verlangen nach ihr waren so heftig, dass er befürchtete, die Kontrolle zu verlieren. Welch ein leichtes Opfer für Vincent! Und was für eine Genugtuung für ihn, mit anzusehen, wie sehr sein Bruder litt.
Jolin keuchte. Die Leere und die Kälte, die sie eben noch empfunden hatte, fielen nun von ihr ab wie eine fremde Haut. Darunter kam die wahre Jolin zum Vorschein und mit ihr eine Welle aus Wut, Verzweiflung und Angst.
»Bastard!«, brüllte sie. »Ich werde es nicht zulassen, dass du ihm das antust!«
Jolin wirbelte herum, schnappte sich ihre Tasche und durchwühlte sie nach ihrem Handy. Rouben musste wissen, dass sie Vincent erkannt hatte. Sie wollte mit ihm reden, ihm sagen, dass sie ihn liebte, ganz egal, wer oder was er war, und dass sie keine Angst vor dem hatte, was er ihr antun könnte, sobald Vincent ihn vollkommen verwandelt hatte. Endlich fand sie das Handy, das zwischen die Seiten ihrer Arbeitskladde gerutscht war. Hektisch tippte sie Roubens Nummer ein. »Bitte, melde dich«, murmelte sie, während sie unruhig auf und ab lief. »Du musst dich melden, hörst du!«
Aber aus dem Handy drang nichts weiter als ein kaum wahrnehmbares Rauschen an ihr Ohr. Jolin versuchte es drei weitere Male – ohne Erfolg – und entschied sich schließlich für eine SMS.
ich weiß, dass er zurück ist, und ich weiß, was mit dir geschieht.
ich kenne seinen perfiden plan.
bitte melde dich, wir müssen reden.
ildmaml ((j))
Jolin dachte noch, dass der letzte Gruß vielleicht ein Fehler war, doch da hatte sie die Nachricht bereits abgeschickt. – Ach, und wenn schon!
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