Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
entsetzliche Gefühl, nicht mehr viel Zeit zu haben. »Wenn du mich liebst …«
»Das tue ich nicht.«
»Rouben!«
»Ich bin nicht mehr so …«
»Das ist mir egal!«
Jolin zitterte am ganzen Körper, und als Rouben wieder nicht gleich antwortete, fing sie lautlos an zu weinen.
»Ich … werde … dich … töten«, sagte er so unvermittelt, dass sie vor Schreck fast das Handy fallen ließ. »Sobald meine Verwandlung abgeschlossen ist, werde … ich … es … tun«, fuhr er stockend fort. »Vincent weiß, dass ich meine Gier nicht im Griff habe … dass ich mich dann nicht mehr kontrollieren kann. Und er hat recht, ich schaffe es ja jetzt schon kaum noch, mich zu beherrschen. Ich … rieche … dein … Blut … bis … auf … die … Straße … hinunter«, grollte er.
»Was?« Jolin schob sich eine Haarsträhne, die ihr über die Augen gefallen war, hinters Ohr und blickte hoffnungsvoll zum Fenster. »Wo bist du?«, fragte sie leise. »Vor dem Haus?«
»Nein«, erwiderte Rouben. »Das geht nicht … mehr …«
»Und was ist mit deinem Bruder?«, brach es aus ihr hervor. »Er könnte jederzeit zurückkommen und … mich umbringen … Ist es das, was du willst?«
»Jolin …«
»E-es tut mir leid«, stammelte sie. »I-ich wollte das nicht sagen.« Nicht einmal denken wollte sie das! Obwohl sich jede einzelne Zelle ihres Körpers noch immer an die Ereignisse im Keller erinnerte und sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufstellten, sobald sie sich Vincents dunkle Gestalt vergegenwärtigte, war die Vorstellung von ihrem eigenen Tod, dem Tod an sich, noch immer so abstrakt, dass er sich nicht in ihre alltägliche Wirklichkeit integrieren ließ. Neue Tränen traten in ihre Augen und auch diese wischte Jolin energisch fort. »Aber ich … Rouben, ich würde lieber durch dich sterben als durch ihn«, fügte sie mit fester Stimme hinzu.
»Bitte sag so etwas nicht.« Seine Stimme war jetzt nur noch ein dunkler Hauch. »Ich würde mir das niemals verzeihen. Hör zu, bitte, Jolin … Du musst alles vermeiden, was dich in Gefahr bringen könnte. Versprich mir das.«
»Aber wie soll ich das tun?«, rief sie. »Wenn du schon nichts gegen ihn ausrichten kannst, bin ich ihm doch erst recht ausgeliefert.«
»Du darfst den Keller nicht mehr betreten. – Sorge dafür, dass immer jemand bei dir ist, wenn du die Wohnung verlässt. – Anna soll dich abholen und nach Hause bringen.«
»Sie wird Fragen stellen.«
»Du … kriegst das schon hin«, erwiderte Rouben. »Redet über das Projekt … über Leonhart … die Zukunft.«
»Die Zukunft?«, stieß sie hervor. »Ich habe keine Zukunft mehr! Wenn ich nicht einmal darauf hoffen kann, dass du … dass wir …« Sie brach ab, weil sie die Tränen nun doch nicht mehr zurückhalten konnte.
»Halte dein Fenster geschlossen«, fuhr Rouben stockend, aber unbeirrt fort. »Immer. Hörst du?«
»Ja«, presste Jolin mühsam hervor.
»Versprich es!«
»Ja.«
»Und jetzt sieh hinaus!«
Jolin zog die Nase hoch und richtete den Blick erneut zum Fenster. Alles in ihr sträubte sich dagegen, hinüberzugehen und auf eine leere dunkle Straße zu schauen.
»Siehst du den Mond?«
»Was?«, fragte sie erstaunt. Obwohl es im Grunde so naheliegend war, hatte sie in diesem Moment mit einer solchen Frage nicht gerechnet.
»Kannst du ihn sehen?«, grollte Rouben ungeduldig.
»Ja«, erwiderte sie schwach. »Er ist bald voll.«
»Am Dienstag bleibst du zu Hause«, sagte Rouben in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Von Dienstagabend bis Mittwochmorgen … wirst du keinen Schritt vor die Tür machen.«
»Aber …«, versuchte Jolin es trotzdem.
»Versprich es!«, fuhr er dazwischen. »Bitte.«
Jolin schwieg.
Rouben wartete noch eine Weile auf ihre Antwort, schließlich unterbrach er die Verbindung, und wieder kroch diese schreckliche zermürbende Stille zu Jolin durch und nahm schleichend von ihr Besitz.
Jolin hätte nicht sagen können, wie lange sie mit dem Handy in der Hand und absoluter Leere im Kopf auf der Bettkante verharrte. In ihrem Gehirn hatte es nicht den Reflex eines Gedankens gegeben und in ihrer Brust hatten keine Empfindungen getobt. Hätte man ihr hinterher gesagt, dass sie für ein paar Stunden tot gewesen wäre, sie hätte es ganz sicher geglaubt.
Tot sein – das war das Einzige, was sie denken konnte, nachdem sie aus ihrer Erstarrung erwacht war. Sie hörte Rumoren in der Küche, das Rauschen der Dusche im
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