Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
worden. Dann hätte ich euch nie kennenlernen müssen. Die KASEDU–Kinder haben ja so ein Glück.“ Langsam versagte seine Stimme. „Sie dürfen in den KBEs aufwachsen… und werden nicht von so einer widerwärtigen Familie vergiftet.“
Alina versuchte vergebens, ihre Tränen zurückzuhalten und sprach im Flüsterton: „Wer bringt dich nur auf all diese Ideen, Garrett?“
„Das sind keine Ideen, Mutter , das sind Fakten .“
„Bist du der Jugendbrigade beigetreten?“
Garrett schwieg.
„Antworte deiner Mutter.“
„Ich muss eure beschissenen Fragen nicht beantworten.“
Leonard sah ihn düster an. „Wenn du unbedingt gehen willst, dann verschwinde aus unserem Haus.“
Der Teenager verschränkte die Arme und antwortete betont kühl. „Nein. Ich habe noch keinen Platz in einer Unterkunft zugewiesen bekommen.“
„Das ist mir völlig egal“, schrie Leonard. „Wenn du nicht Teil dieser Familie sein willst, dann verschwinde.“
„Nein, Leonard, nein“, rief Alina. „Er muss nicht gehen. Vielleicht ändert er noch seine Meinung.“
„Ich werde meine Meinung nicht ändern, Miststück.“
Leonard schlug mit geballter Faust zu und traf Garrett direkt am Unterkiefer. Der Teenager zögerte einen Augenblick, der Schock war ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Er fasste sich ans Kinn und betrachtete anschließend seine Hand. Sie war voller Blut. Dann brüllte er rasend vor Wut und rammte seinen Kopf in Leonards Brustkorb.
Alina schrie immer und immer wieder hört auf, Jungs, hört auf , aber ihre Worte trafen auf taube Ohren. Die beiden Männer kämpften schon fast fünf Minuten lang auf dem Boden miteinander, als Leonard seinen Sohn endlich ordentlich zu fassen bekam und ihn auf den Boden drückte.
„Verschwinde. Sofort.“
„Mit Vergnügen“, erwiderte der Teenager. Er spuckte seinem Vater ins Gesicht.
Leonard zuckte zusammen und wischte sein Gesicht am Ärmel ab, was Garrett die Möglichkeit bot, sich zu befreien. Der Teenager schnappte sich seinen Rucksack, stopfte die Regierungspapiere ins vordere Fach und schmiss sich die Tasche über die Schulter.
„Das wirst du noch bereuen“, sagte er wütend, bevor er den Flur hinunterlief. Er kämpfte mit seinen Schuhen und fluchte vor sich hin. Als er aus der Tür hinausging, rief er so laut, dass seine Stimme auf jeden Fall bis in den ersten Stock drang: „Jeder, der dreizehn oder älter ist, kann eine staatliche Vormundschaft beantragen.“
Im ganzen Haus war zu hören, wie die Tür zuschlug. Gläser klirrten auf der Arbeitsplatte.
Alina vergrub das Gesicht in den Händen und fing an, heftig zu weinen. Leonard legte seine Hand auf ihren Rücken und führte sie zur Couch. Dort setzte er sie behutsam hin und ließ sich ebenfalls neben ihr nieder. Sie schüttelte seinen Arm energisch von sich.
„Warum hast du ihm gesagt, dass er gehen soll?“, fragte sie bestimmt.
„Ich… ähm—“
„Wir hätten das schon irgendwie wieder hinbekommen. Vielleicht hätte er seine Meinung geändert.“ Sie schaukelte nun mit dem Körper vor und zurück.
„Er hat sich wie ein Arschloch verhalten.“
„Na und? Er ist mein Sohn.“
„Aber er—“
„Nur, weil du dich nicht mehr daran erinnern kannst, ihn großgezogen zu haben, heißt das nicht, dass er nicht ebenso gut auch dein Sohn ist. Das muss dir ja wirklich leicht gefallen sein, oder? Wenn es nach dir geht, hast du ja quasi nur einen ungebetenen Gast aus dem Haus geworfen.“
„Nein, ich—“
„Doch natürlich, weil du dich nicht mehr erinnern kannst.“
Er starrte auf den Boden. Sie hatte recht. Es war einfach gewesen. Für ihn war Garrett einfach nur ein unverschämtes Balg, das einen Tritt in den Arsch verdient hatte. Hätte sich Leonard daran erinnern können, wie er seinen kleinen Babykörper in den Armen gehalten hatte, mit ihm auf den Spielplatz gegangen war oder ihm das Ballwerfen beigebracht hatte, hätte er wahrscheinlich anders reagiert. Während er das selbstsüchtige Verlangen spürte, jenes perfekte Leben führen zu können, das er sich durch jahrzehntelanges besessenes Arbeiten und oberflächliche Beziehungen vorenthalten hatte, wollte er nun einfach alles aus dem Weg schaffen, was zwischen ihm und seinem Eheglück stand. Er wollte einfach nur bei Alina sein. Und Natalia schien auch nett. Garrett war nur ein unnötiges Ärgernis, das man einfach wie Müll entfernen konnte. Was Leonard jedoch am meisten zu schaffen machte, war die Tatsache, dass er, obwohl er sah, wie
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